Eine Sozial-Frau hat mir mal gesagt, dass es auch eine Chance sein kann, wenn man bei ’ner anderen Familie aufwächst. Genauso, wie’s ’ne Chance sein kann, wenn du in ein anderes Land ziehst, wo du die Sprache nicht kannst und keinen kennst und dort alle mit Stäbchen essen, auf der falschen Seite Auto fahren oder sich verbeugen, statt die Hand zu geben.
Vielleicht hat sie recht. Aber sie war nicht aus ’nem anderen Land. Und sie hat nicht bei ’ner anderen Familie gewohnt, auch als Kind nicht. Darum hab ich ihr nicht zugehört. Weil, dass sie das gesagt hat, das war so ’n bisschen, als würd sie in ’nem Boot neben mir herfahren und mir erzählen, wie geil es is, dass ich ans Ufer schwimmen darf und davon Muskeln krieg.
Weißt du, Papa … das Schlimmste war gar nich, dass ich in ’nem Heim wohnen musste. Oder in ’ner WG. Oder bei Pflegeeltern. Das war manchmal schlimm, ja, weil ich mir das nicht ausgesucht hab. Weil mich keiner gefragt hat. Aber am schlimmsten waren die Besuche von Mama und die Besuche bei dir. Dass ihr jedes Mal fast geheult habt bei der Begrüßung. Und jedes Mal beim Abschied. Und das Dazwischen! Wo ihr so getan habt, als wär alles voll normal und okay. Und ich so getan hab, als wär alles normal und voll okay.
Als alles noch gut war, da wollte Mama nicht, dass ich zu meinem sechsten Geburtstag ’n Skateboard bekomme. Du hast gesagt: „Is mir lieber, sie kriegt eins, solang sie noch Milchzähne hat.“
Ich hab mir nie ’n Zahn ausgeschlagen. Ich hab mir auch keine Knochen gebrochen. Aber ich hab dauernd aufgeschürfte Knie gehabt, weil die Knieschützer voll steif und
waren und ich die nie angezogen hab. Das hat dann immer gebrannt wie Hölle, wenn ich hingefallen bin. Und dann is so ’ne Kruste gewachsen. Die hat auch gebrannt. Aber ganz schlimm war’s, kurz bevor die Kruste aufgeplatzt is. Als sie gespannt hat bei jeder Bewegung. Wenn sie zu früh platzt, dann blutet’s drunter wieder. Zehn Tage. So lang dauert’s vom Aufschürfen, bis die Kruste abblättert und du die Knie wieder normal abbiegen kannst.
Besuchstage mit euch waren einmal die Woche. Alle sieben Tage. Und jedes Mal ist die
Kruste wieder aufgeplatzt. Jedes Mal wenn ich euch gesehen hab, hat’s danach wieder genauso wehgetan wie kurz nach’m Hinfallen. Deshalb bin ich dauernd abgehauen und zurück nach Hause. Hat lang gedauert, bis ich gemerkt hab, dass das nix bringt. Weil die halt immer schon wussten, wo ich hinwill. Trotzdem: Aufgeben is nich mein Ding. Da fühl ich mich wie der letzte Loser. Irgendwann hab ich’s aber kapiert. Ich bin nich mehr abgehauen. Nur konnt ich auch nicht mehr dauernd die Kruste zu früh abreißen. Darum wollt ich euch nicht mehr sehen. Ich hab diesem Sozial-Onkel gesagt, ich will sechs Monate ohne euch. Und er hat’s verstanden. Er hat versprochen, dass er’s euch erklärt. Hans war das. Die Namen von den Guten hab ich mir immer gemerkt. Der war schon älter, mit grauen Haaren. Aber seine Augen waren jung und er hat richtig hingeguckt. So Leute gibt’s nich oft. Die nicht schon ein fertiges Bild im Kopf haben, bevor sie hinsehen. Sondern abwarten, sich alle deine Farben und Linien genau ansehen. Denen nicht viel entgeht.
„Ich kümmer mich drum“, hat Hans gesagt. Und ihm hab ich’s geglaubt. Der hat auch nich bei einer anderen Familie gewohnt oder ist aus ’nem anderen Land gekommen. Er hat mich genauso wenig in sein Boot ziehen können. Aber er hat kapiert, dass ich am Schwimmen bin, und hat versucht, dass ich ’ne
Pause krieg.
Jetzt hab ich euch seit vier Monaten nicht gesehen, Mama und dich. Ich hab versucht, nicht an euch zu denken, weil das is auch nicht gut für die Kruste. Hat nich geklappt, klar. Ihr fehlt mir. Sehr.
Trotzdem – es is besser geworden, seit ich hier in Saaks bin. Ich hab dir ja alles geschrieben. Dass das Internat auf ’nem Berg hockt wie ein fetter Adler. Dass nur vierundzwanzig Kinder hier wohnen. Die anderen Schüler kommen mit der Gondel aus’m Tal hoch. Du weißt, dass ich als Einzige im zweiten Stock wohne und dass ich einen Siebenschläfer als Mitbewohner hab. Du weißt von meinen neuen Freunden. Von Dante und Karan, Mattis und Lucky. Und von Lilith und Alba. Was du nicht weißt ist, dass es uns offiziell gar nicht gibt.
Das Saakser Internat existiert nicht. Es gibt keine Homepage, keine Telefonnummer, keinen Zeitungsartikel, gar nix! Ja, ich weiß! Jetzt willst du wissen, warum ich dir vorher nix davon geschrieben hab. Ich weiß nicht. Ich glaub, ich hab Angst gehabt, dass du’s irgendwie auffliegen lässt, bevor ich rausgefunden hab, was hier wirklich abgeht.
Es is nämlich so: Das is’n Mega-Luxus-Teil, dieses Internat. Für Kinder von Leuten mit richtig echt Kohle. Kostet fast viertausend Euro im Monat. Für alle – bis auf zwei. Zwei Schüler hier oben haben ’n Stipendium und müssen gar nix zahlen: Dante Dahlem. Und ich, Elenie Alser.
Jetzt fragst du dich:
, warum das denn? Keine Ahnung! Dante kann’s nich erklären und ich auch nich. Allerdings haben wir ’ne Vermutung. Ich glaub, damit fang ich am besten an. Weil vor sechs Wochen hatte Dante ’ne Idee. Dante is gut mit Ideen. Aber auch, wenn du die krass geilste Idee der Welt hast, brauchst du immer noch einen Plan, damit was draus wird. Und ich … ich bin richtig gut mit Plänen, weißt du ja.
Also, vor sechs Wochen, da klopft’s nachts an meinem Fenster … im zweiten Stock. Es ist schon spät. So spät, dass die Lichter im Tal tief unter dem Internat fast alle aus sind. Ich lieg in meinem riesigen Himmelbett mit den geschnitzten Bettpfosten und lese Shakespeare. Okay, nein, mach ich nicht. Das hätt ich lesen sollen, aber ich hab in meinem Mathebuch gelesen. Ich find Mathe immer noch geiler als jedes andere Fach. Geist hat sich auf meinem Bauch eingerollt und lässt sich von mir kraulen. Geist sieht aus wie ein kleines, hellgraues Eichhörnchen mit Mäusekopf und runden Ohren. Ihre Augen sind auch rund, riesig und schwarz. Natürlich darf keiner wissen, dass sie hinter der kaputten Steckdose in meinem Zimmer wohnt. Wenn sie’s wüssten, würden sie wieder die Kammerjäger holen. Was ich mega-unfair finde, weil: Geist war eindeutig zuerst da.
Alle im Internat denken, dass es im zweiten Stock spukt. Vor allem in der Nacht hört man hier oben Pfeif- und Quietsch- und Kratzgeräusche. Keiner weiß, dass hier kein echter Geist spukt, sondern ein Siebenschläfer-Weibchen. Über das Pfeifen hab ich schon mit Geist geredet. Interessiert sie ’n feuchten
, dass sie mich damit aufweckt. Inzwischen hab ich mich dran gewöhnt und wach nicht mehr auf davon. Und hey – vielleicht schnarch ich ja? Wär nur fair.
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