Manchmal denk ich noch heute dran und frag mich, was da drin is in dem Tresor hinter der Wand. Weil’s ein Geheimnis ist, das keiner gelöst hat. So was lässt dich nich los. Deshalb müssen wir einfach herausfinden, was mit dem Saakser Internat nich stimmt. Ahmet Armut hat gesagt, ich soll mich raushalten. Ich soll meine Nase nicht reinstecken. Aber meine Nase steckt schon mittendrin. Allein deshalb, weil Dante mein Freund ist. Und weil das Geheimnis was mit ihm zu tun hat und mit dem Vater, den er nie kennengelernt hat. Klar kannste sagen: Geheimnisse? Nö, Mann, interessiert mich nich. Is gut, dann hör hier auf zu lesen.
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Nein? Siehste!
Ich will’s auch wissen. Also stehe ich auf und strecke Dante die Hand hin. Er lächelt mit diesem leicht schiefen Lächeln, das ich am liebsten mag – und schlägt ein.
„Wo fangen wir an?“, fragt er.
Ich grinse zurück. „Bei 000000.“
Ich hab erst so richtig kapiert, was ein Gefängnis is, als wir dich zum ersten Mal besucht haben. Ja, klar hab ich gewusst, dass man da reinkommt, wenn man ein Verbrechen begangen hat und dabei erwischt worden is. So ’ne richtige Vorstellung hab ich trotzdem nicht gehabt. Halb hab ich erwartet, dass sie dir die Haare kurz geschoren haben und du in einem orangen Overall mit Handschellen vor mir sitzt.
Hat mich nich gestört, dass jemand vom Jugendamt dabei war. Ich war so
nervös! Die Justizvollzugsanstalt hat mich ans Krankenhaus erinnert, in dem Opa gestorben is. Beides Orte, die man nicht braucht, wenn alles gut is. Krankenhäuser gibt’s nur, weil Leute verletzt oder krank werden. Und Gefängnisse, weil Leute andere verletzen. Aber das sag ich dir nicht, nicht an dem Tag.
Du siehst auch so schon zerknittert und zerschlagen aus. Ich bin erleichtert, dass du Jeans anhast und ein normales Hemd. Keine Handschellen, soweit ich sehen kann. Und keine Eisenkugel am Fuß. Wir sind nicht allein im Besucherraum. Da sitzen auch andere Knastis mit ihren Familien. Am Nebentisch knutscht ein Pärchen, bis einer der JVA-Mitarbeiter mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopft.
„Hey, hier sind Kinder“, sagt er nicht unfreundlich. „Die wollen nich sehen, wie ihr euch die Zungen verknotet.“
Hat er recht, woll’n wir nich.
Und dann sitz ich vor dir und seh, wie du versuchst, die Tränen zu schlucken.
„Hallo, meine Maus“, sagst du heiser, als hättest du deine Stimme lang nicht benutzt, und legst deine Hand auf meine. Sie fühlt sich anders an als früher. Weicher, glatter, feuchter. Gefällt mir nicht. Aber mir gefällt nichts an alldem hier.
„Hallo, Papa.“
Die Frau vom Jugendamt gibt dir die Hand, routiniert, freundlich, schaut dir auch in die Augen dabei. Das ist nicht ihr erster Besuch in einer JVA. Auch Papas bauen
. Is so. Und wenn, dann is sie da.
„Geht’s dir gut?“, fragst du.
Ich starre dich an. Was soll ich darauf sagen, hm? Geht mir voll geil, danke! Ich bin Elenie Alser, acht Jahre alt. Meine Eltern hassen sich, ich darf nicht mehr zu Hause wohnen, mein Vater is im Knast, meine Mama in der Klapse und ich bin in ’nem Heim … alles nice!
Du siehst, dass der Ball ins Aus geht, und machst die Frage kleiner.
„Kriegst du genug zu essen?“
Ich nicke. Dass es mir nicht schmeckt, lass ich aus. An dem Tag gab’s Pizza im Heim. Hat sich angefühlt, als würd ich auf nassen Buchdeckeln rumkauen. Trotzdem: Ja, ich krieg zu essen. Den Nachtisch haben mir so ’n paar
weggefressen, aber da hab ich ’n Plan.
„Und hast du neue Freunde gefunden?“, fragst du.
„Tasha“, sage ich. „Tasha is meine Freundin.“
In echt is sie mehr so ’n Bodyguard, aber auch das sag ich nicht.
„Wie is es hier drin?“, frage ich dich.
Du atmest tief ein.
„Okay.“
„Kriegst du genug zu essen?“
Dein Gesicht explodiert in einem gigantischen Lachen wie eine Scheibe, die zerspringt. Ich lache auch. Die Frau vom Jugendamt lacht mit uns. Etwas Magisches passiert: Das Lachen trägt uns weg, raus, irgendwohin, wo’s schön is. Vielleicht auf eine Picknickdecke unter einem Baum im Frühling. Klar sind wir immer noch im Knast. Aber für den Moment spüren wir die Mauern nich.
In Saaks gibt’s keine Mauern, nur Berge. Trotzdem gibt’s Besuchstage für die Familien – jeden Sonntag. Nur wohnen die meisten Eltern so weit weg, dass immer nur ein paar kommen. Dantes Mutter is jeden zweiten Sonntag hier und meistens bringt sie seine Halbschwester Marie mit. Marie is fünf und sieht aus wie eine Porzellanpuppe. Sie hat dieselben goldenen Haare wie Dante und ihre Mutter, aber ihre Augen sind braun, nicht grau wie Dantes. Auch die Farbe ihrer Haut ist eher Milch, nicht Honig.
Eine meiner Pflegemütter hat Porzellanpuppen gehabt. Die saßen auf einer Bank gegenüber von der Klotür. Mein kleiner Pflegebruder damals hat mega
gehabt vor den Puppen. Deshalb hat er sich nicht getraut, in der Nacht aufs Klo zu gehen, und immer aus dem Fenster gepullert. Unsere Pflegeeltern haben sich extremst gewundert, dass der komische Busch darunter immer verwelkt war. Die haben gedacht, die Wühlmäuse wär’n schuld. Ich hab nix gesagt. Klar. Pflegis und Heimis verpfeifen sich nicht. Und, ganz ehrlich: Wenn ich nicht älter gewesen wär und ’ne größere Blase gehabt hätte als der Kleine – ich hätt auch aus’m Fenster ge
.
Jedenfalls: wenn sich Dantes Schwester zwischen die Puppen gesetzt hätte – perfekte Tarnung, Mann! Sogar das Kleid mit den Punkten, das sie heute anhat, hätte einem der Püppchen gehören können. Ein echtes
Sonntagskleid.
Normalerweise fahr ich an den Besuchstagen mit der Gondel ins Tal und geh zu Mattis zocken. Weil: Mattis wohnt nicht im Heim, sondern bei seiner Familie im Tal. In seinem Haus is es immer laut – aber auf die gute Art. Wo alle durcheinanderreden und brüllen und lachen und das Radio läuft und jemand übt Klavier und einer schneidet Gemüse … Es riecht immer nach irgendwas Essbarem oder nach Bastelzeug. Manchmal überschneidet sich das, wenn Mattis’ kleine Schwester Magdalena mit Essen bastelt. Mir hat sie eine Schachtel geschenkt, die sie mit Makkaroni verziert hat. Hat ihr keiner gesagt, dass die Nudeln vorher nicht gekocht sein sollten. Und die Tomatensoße wär auch nicht nötig gewesen. Ich hab mich trotzdem gefreut. Weil mit den gekochten Nudeln hat sie Enni auf den Deckel geschrieben. Ich hab sie erst weggeworfen, als der Schimmel dran dunkelviolett war. Is einfach nich meine Farbe. Bei einer von meinen Pflegefamilien is immer mal wieder ein großer, getigerter Kater aufgetaucht, is einfach durchs Fenster oder die Terrassentür gekommen und hat sich aufs Sofa gelegt. Hat nie wen gestört, wir haben uns alle an ihn gewöhnt und uns gefreut, wenn er da war. Für Mattis’ Familie bin ich der getigerte Kater.
Heute fahr ich nicht runter ins Tal. Stattdessen sitze ich verlegen und verkrampft mit Dantes Mutter und Schwester in der Bibliothek.
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