(Un-)Gleichheit und Gerechtigkeitseinschätzungen – kein eindeutiger Zusammenhang
Die Datenlage zeichnet ein weitgehend positives Bild für die Entwicklung seit 2005 – sowohl bezüglich objektiver Indikatoren von Einkommen und Vermögen und noch stärker bezüglich der subjektiven Wahrnehmung der persönlichen finanziellen Lage. Gleichwohl deuten Einschätzungen zum Zustand der Gesellschaft darauf hin, dass die individuell von vielen als positiv empfundene Entwicklung gesamtgesellschaftlich eher negativ beurteilt wird. Die kritische Beurteilung der sozialen Gerechtigkeit geht gleichzeitig mit dem Wunsch einher, dass der Staat die Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren möge.13
Wenn die Menschen konkret gefragt werden, welche sozialstaatlichen Maßnahmen das Land aus ihrer Sicht gerechter machen, erhalten diejenigen Maßnahmen besonders große Zustimmung, von denen auch die Mitte und die obere Mittelschicht profitieren. Leistungen, von denen ausschließlich weniger privilegierte Gruppen profitieren würden und durch die die Ungleichheit am stärksten reduziert werden könnte, finden hingegen keine mehrheitliche Zustimmung. Werden Finanzierungsfragen mitberücksichtigt, zeigt sich zudem ein sehr begrenzter Ausgabenspielraum für ungleichheitsreduzierende Politik. Breite Zustimmung erhalten nur Maßnahmen, die einzig eine zusätzliche Belastung »der Reichen« bedeuten. Diese Finanzierungsform lässt sich besonders leicht fordern, da sich nur sehr wenige Bundesbürger selbst in hohe Einkommensbereiche einsortieren, geschweige denn sich selbst »als reich« bezeichnen würden, und somit nicht mit einer eigenen zusätzlichen Belastung rechnen. Beobachtungen aus Survey-Experimenten deuten darauf hin, dass insbesondere Gutverdiener von ihrem zuvor geäußerten Umverteilungswunsch abweichen, wenn sie erfahren, dass sie selbst zu dessen Finanzierung beitragen müssten.14
Da gleichzeitig viele Bundesbürger den Anteil der (sehr) Reichen in der Bevölkerung deutlich zu hoch einschätzen, wird zudem auch das Potenzial der Finanzierungsquelle überschätzt. Die Bundesbürger äußern somit zwar mehrheitlich den abstrakten Wunsch, dass die Ungleichheit zwischen Arm und Reich reduziert werden sollte. Mit Blick auf die konkreten Umverteilungswünsche und die Fehleinschätzungen zu den möglichen Finanziers der Maßnahmen ist es jedoch keinesfalls eindeutig, dass die Umsetzung der präferierten Maßnahmen in einer substanziellen Ungleichheitsreduktion resultieren würde.
Zugleich deuten Umfragen darauf hin, dass die Präferenz für Leistungsgerechtigkeit in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Mehr als 80 Prozent der Bundesbürger halten eine Gesellschaft dann für gerecht, wenn hart arbeitende Menschen mehr verdienen als andere.15 Größere Gleichheit und ein höheres subjektives Gerechtigkeitsempfinden können sich somit durchaus in unterschiedliche Richtungen bewegen.
Vor Corona war die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung überaus positiv, die Entwicklung der Verteilungsindikatoren stabil und die Wahrnehmung der individuellen Situation überaus positiv. Gleichwohl fiel der Blick auf die gesellschaftliche Situation sehr kritisch aus. Die Corona-Krise hat der positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung mindestens temporär ein jähes Ende gesetzt. Ob und wie sich die Einschätzungen zur sozialen Gerechtigkeit infolge der Krise verändern werden, wird die nächste Welle der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage zeigen. Unabhängig von der Ungleichheitsentwicklung und anders als bei der Finanzkrise ist es durchaus denkbar, dass die Gerechtigkeitseinschätzungen sogar positiver ausfallen, da die Menschen während der Krise möglicherweise wieder »näher zusammengerückt sind«.
Auf diese Entwicklung deuten zumindest die Ergebnisse einer speziellen SOEP-Cov-Befragung hin, die zeigen, dass die Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft während der Corona-Krise merkbar gegenüber den Vorjahren zurückgegangen sind.16 Zudem bleibt zu hoffen, dass die umfangreichen staatlichen Maßnahmen die negativen Krisenwirkungen so gut abfedern, wie es bei der Finanzkrise gelungen ist. In der Rückschau lassen sich die Jahre vor der Corona-Krise, mit Rekordbeschäftigung, stabilen Verteilungsverhältnissen und sinkenden Sorgen, sicherlich als eine eher »gute Zeit« einordnen – wenngleich die kritischen Gesellschaftsbewertungen der Bürger kaum eine positive Entwicklung erahnen ließen.
Anmerkungen
1Vgl. Alexandra Fedorets/Markus M. Grabka/Carsten Schröder/Johannes Seebauer (2020): »Lohnungleichheit in Deutschland sinkt«. DIW Wochenbericht, Jahrgang 87, Nummer 7, S. 91–97.
2SPIEGEL Online, 05.03.2020, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buerger-empfinden-deutschland-als-extrem-ungerecht-a-bed86bc6-aecc-4b00-b0a5-a1519ebfc111, abgerufen am 31.08.2020.
3Vgl. Maximilian Stockhausen/Mariano Calderón: »IW-Verteilungsreport 2020. Stabile Verhältnisse trotz gewachsener gesellschaftlicher Herausforderungen«. IW-Report, Nummer 8, Köln 2020.
4 http://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/einkommensarmut-und-verteilung/a12-gini-koeffizient-der-aequivalenzeinkommen, abgerufen am 31.08.2020. Der Gini-Koeffizient stellt ein häufig verwendetes Ungleichheitsmaß dar. Verfügen alle Bürger über gleich hohe Einkommen, liegt der Gini-Koeffizient bei null. Besitzt ein Bürger alles und alle anderen nichts, liegt der Koeffizient bei eins (maximale Ungleichheit).
5 https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Indikatoren/Gesellschaft/gesellschaft.html, abgerufen am 31.08.2020.
6Vgl. Maximilian Stockhausen/Judith Niehues: »Vermögensverteilung: Bemerkenswerte Stabilität«. IW-Kurzbericht, Nummer 81, Köln 2019.
7Vgl. Judith Niehues/Maximilian Stockhausen (2020): »Ungleichheit(en), ein bekanntes Phänomen?«. ifo Schnelldienst, Jahrgang 73, Nummer 2, S. 3–6.
8SPIEGEL Online, 05.03.2020, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buerger-empfinden-deutschland-als-extrem-ungerecht-a-bed86bc6-aecc-4b00-b0a5-a1519ebfc111, abgerufen am 31.08.2020.
9Vgl. Jule Adriaans et al. (2020): »Einstellungen zu Armut, Reichtum und Verteilung in sozialen Lagen in Deutschland«. Zweites Symposium zum 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/zweites-symposium-arb6-praesentation-diw.pdf?__blob=publicationFile&v=1, abgerufen am 31.08.2020.
10Vgl. Karl Brenke (2018): »Armut: vom Elend eines Begriffs«. Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik. Jahrgang 98, Heft 4, S. 260–266.
11Vgl. Bundesregierung: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage – Drucksache 19/8837. Hrsg.: Deutscher Bundestag, Berlin, 29. März 2019, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/088/1908837.pdf, abgerufen am 31.08.2020.
12Vgl. Carina Engelhardt/Andreas Wagener (2018): »What do Germans think and know about income inequality? A survey experiment«. Socio-Economic Review, 16 (4), S. 743–767; Judith Niehues (2016): »Ungleichheit: Wahrnehmung und Wirklichkeit – ein internationaler Vergleich«. Wirtschaftsdienst, Jahrgang 96, Heft 13, S. 13–18.
13Vgl. Judith Niehues (2019): »Subjektive Umverteilungspräferenzen in Deutschland«. IW-Trends, Jahrgang 46, Nummer 1, S. 79–98 und die darin zitierten Quellen für eine weitere Diskussion der Thematik.
14Vgl. Carina Engelhardt/Andreas Wagener (2018): »What do Germans think and know about income inequality? A survey experiment«. In: Socio-Economic Review, 16 (4), S. 743–767.
15Vgl. Jule Adriaans/Philipp Eisnecker/Stefan Liebig (2019): »Gerechtigkeit im europäischen Vergleich: Verteilung nach Bedarf und Leistung in Deutschland besonders befürwortet«. DIW-Wochenbericht, Jahrgang 86, Nummer 45, S. 817–825.
16Vgl. Kühne, Simon/Kroh, Martin/Liebig, Stefan/Rees, Jonas/Zick, Andreas (2020), »Zusammenhalt in Corona-Zeiten: Die meisten Menschen sind zufrieden mit dem staatlichen Krisenmanagement und vertrauen einander«. DIW aktuell Nr. 49.
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