Jetzt ist Schluß! dachte sie. Ich werde die Namen aller Frauen in meinem ganzen Leben aufschreiben, seit damals, als ich noch in Colletts gate wohnte und erst drei war, denn damals hat es angefangen, das weiß ich genau! – es hat mit Ulla Jespersen angefangen, in der Ecke, beim Fliegeralarm. Da saß sie zusammen mit ihren Freundinnen im Fahrradschuppen und lachte, zusammen mit den übrigen Hausbewohnern. Ich habe das nicht vergessen, und auch nicht, wie sehr ich mich darüber gefreut habe, daß sie da saß.
Sie nahm ihr Tagebuch und führte ihren Vorsatz aus. Es wurde eine lange Reihe Namen von Mädchen, die sie auf dieser Welt froh gemacht hatten. Sie endete mit: Sheila F. Mayfield, 6, Aberdeen Road, Edinburgh 5. I love you.
Inger starrte die Worte an. Das war pervers. Trotzdem hatte sie das geschrieben. Hier stand endlich das, was alle zum Kotzen gebracht hätte. Sie sehnte sich nach etwas, nach dem sich zu sehnen absolut verwerflich war. Sie wußte, daß sie kriminell wäre, wenn sie ihre Sehnsucht in die Tat umsetzte. Es gab Gesetze dagegen, das wußte sie. Aber um was es sich dabei genau handelte, wußte sie nicht. Sie sehnte sich nur danach, noch einmal um ein Kerngehäuse zu kämpfen. Inger starrte ihre verbotenen Worte an. Sie hatte schon einmal so etwas gemacht. Das war lange her. Sie hatte Gott erzählt, daß sie Beate liebte. Dann hatte sie die Blätter aus dem Buch gerissen und verbrannt. Jetzt versprach sie sich, diese hier niemals zu verbrennen. Nur wenn sie der Wahrheit ins Auge sah, konnte sie sie bekämpfen.
Dann lag sie zwischen ihren kalten blankets und sheets und bekämpfte die Wahrheit. Aber bald fand ihre Hand den Weg zu der Stelle zwischen ihren Beinen, und danach benahm sie sich wie ein Tier, mit ihrem Kopf konnte etwas nicht in Ordnung sein, so, wie sie sich aufführte. Sie beschloß jedesmal, daß nun aber das letztemal wäre, doch es passierte wieder, es passierte einfach, und sie mußte sich aufführen, als ob sie total wirr im Kopf wäre, und dann kam Sheila und legte mitten in der Finsternis der Pantomime die Hand auf ihr Knie, und sie explodierte vor Wonne.
Warum bin ich kein Mann? dachte sie. Wäre ich ein Mann, wäre das mit den Frauen völlig in Ordnung. Ich denke und fühle wie ein Mann, und hier stehe ich mit hochgesteckten Haaren mit fünfundzwanzig anderen Frauen vor einer Wand im Cavendish Ball Room und versuche, auf einen Mann zu hoffen, daß die Schwarte kracht. Da kommt sogar einer. Er sieht mich. Ich sehe, daß er mich sieht, und ich versuche, auszusehen, als ob ich ihn sehe, indem ich in die andere Richtung blicke, und vielleicht findet er mich hübsch, oder jedenfalls hübsch genug, um mit mir zu tanzen. Aber ich bin ein Wolf im Schafspelz.
Der Mann kam. Er war hübsch und dunkel und munter und hieß Ian MacNeal, und Inger versuchte, ihn zu sehen. Ihr Körper wollte tanzen und seinen Körper berühren. Ein Körper ist besser als kein Körper, und sie sollte Männerkörper berühren, wenn sie ihn nur oft genug berührte, würden all die Frauen vielleicht verschwinden.
Er brachte sie nach Hause und küßte sie an der Ecke. Inger peilte Edinburghs Männerwelt an. Sie peilte Ola Yngvarsen an, einen norwegischen Zahnmedizinstudenten, den sie hinter Fredrikstad Blad kennengelernt hatte. „Bist du aus Fredrikstad?“ – „Nein, aus Halden“, antwortete Ola. Dann peilte er Birgitte aus Nakskov an. Einen Erdbeermund hätte Inger haben sollen! Wie sollte sie einen Jungen anpeilen? Sie war zu dick, das war ganz deutlich, etwas Deutlicheres als zu dick zu sein gibt es nicht. Aber Ella aus Bergen war auch dick. Und die peilte Tore aus Haugesund an. Wie sollte Inger einen Jungen anpeilen? „Mit den Augen!“ hatte Unni Tøgersen gesagt. Aber sie hatte keine Augen, die durch den Saal flammen konnten, während der Fjord glitzerte.
Inger sehnte sich nach einem Mann. Wo war er? Sie dachte: Mein Körper braucht einen Mann, meine Seele braucht eine Frau. Nur die Seele ist verliebt. Durch die Augen. Aber mein Körper wartet auf den Mann. Sie sehnte sich danach, umarmt zu werden. Von starken Armen, die direkt aus einem Buch kamen. Direkt aus „Jane Eyre“, das sie gerade las, und das noch besser war als „Bauern ziehen übers Meer“. Aber wo waren die Arme?
Thornfield Hall, dachte sie. Daher kam Mr. Rochester. In Büchern war alles viel klarer. Wer den Geliebten nicht bekam, starb einfach. Die Heldin sank auf der Heide um oder warf sich vor einen Zug. Im wirklichen Leben lebte sie immer weiter, auch wenn sie sich eigentlich vor einen Zug geworfen hatte.
„Du liest Jane Eyre?“ fragte Mrs. Mayfield. „Ja“, antwortete Inger.
„Das ist gut, findest du nicht?“
Ingers Traumwelt zerfiel augenblicklich zu Schutt und Asche. Mrs. Mayfield hatte „Jane Eyre“ gelesen! Wie war es möglich, Jane Eyre gelesen zu haben und immer noch auszusehen wie Mrs. Mayfield? „Doch“, antwortete sie. „Ah! Mr. Rochester!“ rief Mrs. Mayfield. Das war das Leidenschaftlichste, was Inger jemals von ihr hören sollte.
Inger stand allein über the trolley gebeugt im Eßzimmer, das Wort „Teewagen“ war längst aus ihrer Erinnerung getilgt, und gab Zucker in die Tassen und dachte an Mrs. Mayfield und Mr. Rochester. Vielleicht sollte das ihr neuer Roman werden? Mrs. Mayfield könnte im Wäldchen stehen und Mr. Rochester vom Pferd fallen sehen, und dann könnte sie sagen: „I think we’ve got different moral standards!“ Und Mr. Rochester könnte sie um ihren ausgeprägt tiefhängenden Hintern packen und rufen: „Who the Deuce do you think you are?“ Und dann könnte er sie so wild und innig küssen, daß sie sofort beschloß, sich vor einen Zug zu werfen, wenn sie ihn nicht bekäme.
Dies war einer ihrer vielen Romananfänge. Das Buch soll „Bauern ziehen übers Land“ heißen, und im Gegensatz zu normalen Büchern soll der Titel nichts mit dem Inhalt zu tun haben. Es soll ein ganz und gar unnormales Buch werden.
Sie stand über the trolley gebeugt und dachte an ihr Buch. Da spürte sie plötzlich, daß hinter ihr jemand dicht an sie herantrat. Sie fuhr zusammen. Es war Sheila. Inger hatte sie nicht kommen hören, nun lehnte sie sich an sie, und Inger spürte einen Moment lang Sheilas Körper an ihrem Rücken. Sie beugte den Kopf zu Ingers, berührte ihr Ohr mit einer Hand und zog sie mit der anderen an sich, einen Augenblick stand sie da in dieser plötzlichen Umarmung, dann flüsterte Sheila: „Zweieinhalb.“
Schon brachte Mrs. Mayfield die Teekanne, und Sheila ging um den Tisch herum und setzte sich mit verschränkten Armen und harmloser Miene an ihren Platz. Aber ihre Botschaft war deutlich genug. Inger zweifelte keine Sekunde, was sie bedeutete. Sheila wollte zweieinhalb Teelöffel Zucker in ihren Tee!
Aufgewühlt stand Inger neben dem Teewagen. Eins war ganz klar: Dieser zusätzliche Löffel würde in die Tasse geschmuggelt werden, und wenn es sie ihre Ehre und ihre Stellung kosten sollte und man sie mit dem ersten Schiff nach Hause schicken würde.
Ratlos stand sie am Zuckertopf, ihr Herz hämmerte. Denn nun kamen auch die anderen. Sheila zog die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihre Mutter auf einen Fussel hinten an ihrem Rock aufmerksam machte. Mrs. Mayfield drehte sich um sich selber, um den Fussel zu finden, und im ganzen Aufruhr gab Inger blitzschnell einen Extralöffel Zucker in Sheilas Teetasse.
Dann setzte sie sich auf ihren Platz. Sie saß zwischen Sheila und Adam an der einen Längsseite. Mr. Mayfield kam nach Hause. Es war Freitag, und es gab gebratenen Schellfisch. Daddy verhörte seine Familie. Alles war wie immer. Abgesehen von dem einen Extralöffel Zucker in Sheilas Teetasse. Eine tiefe Allianz. Schließlich fragte Mrs. Mayfield: „Und was hast du heute gemacht, Charles?“
„Fiddling“, sagte er. Das antwortete er jedesmal, und mehr erfuhr seine Familie nie über seine Arbeit. (Aber er war Börsenspekulant.) Da kam die Hand.
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