Das Buch geht nun als erstes seiner Werke in die Welt; er hat es nicht mehr erlebt. Daß ich ihm das Vorwort schreiben darf, erfüllt mich mit Stolz. Ich habe ihn persönlich nur bei seinem kurzen Urlaub in Hamburg gesehen, aber in einer höchst lebendigen Berührung mit ihm gestanden. Das heißt etwas; denn er stand, selbst als er unter Literaten lebte, ganz außerhalb aller eigentlichen literarischen Beziehungen. Er war einsam als Schaffender, wie heut kaum ein zweiter. Die wenigen Skizzen und Gedichte, die von ihm bei Lebzeiten erschienen, verloren sich. So war er, als er starb, ein Unbekannter. Als er gefallen war, gab mein Aufsatz :»– so will ich für Hektorn zeugen« im Berliner Tageblatt zum ersten Male einer breiten Öffentlichkeit Kunde von dem ganzen Mann. Jetzt werden seine Werke selbst sprechen: nach dem »Studenten« alle die andern, der »Namenlose«, die »Paralyse«, die Novellensammlung »Der Rubin«, sein Drama »Der Refraktär«, seine Skizzen und Kriegsbilder, Aufsätze und Sonette, wie sie die Gesamtausgabe, die bei S. Fischer erscheinen wird, vereinigt. Dann wird auch die Zeit sein, über sein Leben und sein Gesamtwerk Abschließendes zu sagen. Diese Zeilen sollen nur zu dem vorliegenden Roman ein paar Hinweise und Daten geben; einen kleinen Beitrag zur Geologie dieses prachtvollen, ragenden Berges, dessen Wunder und Gefahren nun ein jeder auf eigene Hand ergründen mag.
Hamburg, 9. Mai 1917
Hans W. Fischer.
In einem flachen Kessel am Niederrhein liegt zwischen waldigen und heidigen Höhen ein Dorf, dessen Signum ein kurzer klobiger Backsteinkirchturm ist und dessen Hauptstraße kurz und gut die Mittelstraße heißt, und die wird zu beiden Seiten begleitet von der Kaffeestraße und Kirchstraße und ist mit ihnen verbunden durch mehrere Sträßlein, deren offizielle Namen man nur in dem heimatkundlichen Unterricht der Schule hört; später vergißt man sie und bezeichnet die Sträßlein nach irgendeinem irgendwie hervorstechenden Anwohner.
Die Bewohner aber neigen ein wenig zum Kretinismus und haben insbesondere vor ihren Nachbarn einen eigentümlichen hämischen und bissigen Witz voraus – sonst leben sie wie diese in den Tag und wissen nichts von der transzendenten Idealität der Zeit, der Verneinung des Willens, dem Pathos der Distanz und wären so glücklich wie ihr Vieh, wenn sie eben nicht den hämischen Witz hätten und so eingefleischte Ebenbilder ihres Gottes wären.
In diesem Dorfe ging gerade der Küster zur Kirche, um das Abendläuten zu besorgen, als ihm Erich Schmidt begegnete, der seinen Abendspaziergang begann. »Erich Schmidt«, das hieß für seine Mitbürger soviel wie ein älterer Student, der sich nach seiner, höchst wahrscheinlich doch lustigen, Studienzeit bei seinen Eltern aufhielt, wie er sagte, um sich für sein Examen vorzubereiten, – es war aber schwer, an ihn heranzukommen, und deshalb war er ihnen nur ein dankbares Objekt für ihren schiefmäuligen Witz.
Sein Gang war hastig und unruhig, besonders wenn es seinen Abendspaziergang galt: denn der begann erst draußen mit dem »Tiefen Weg«, und er mußte zusehen, schnell aus dem Drückenden, Engen, Warmen, Hämischen, Vorwurfsvollen und Ungefälligen – daß er aus alle dem herauskam.
Der Tiefe Weg nimmt seinen Anfang gegenüber der letzten Wirtschaft des Dorfes, führt mit einer flechten- und moosgeschmückten Steinbrücke über den Mühlenbach, geht dann unter alten Roßkastanien, die vor einiger Zeit ihre weißen gelb und purpurn gefleckten Blütenblätter zur Erde gekrümelt haben, den Teich entlang und verliert sich durch Garten und Felder im Wald.
Es war den Tag über drückend warm gewesen: die Schulen hatten geschlossen und die badenden Jungen zertraten das hohe Gras, die Frauen setzten für die Feldarbeit ihre ungefügen weißen Hauben auf und die Imker hatten volle Arbeit mit dem Einfangen der Schwärme, da ein Hochzeitsflug den anderen drängte – und jetzt hing es blauschwarz im Osten. Doch Erich zählte eine geraume Zeit, ehe der Donner bei ihm war, oft blieb er noch aus, und es kam als einziger Bote der rasche bleiche Blitz.
Das Gewitter ist noch weit; und wenn auch, mag’s mich übereilen – denn weswegen soll der Blitz, wenn er einmal einen Baum treffen muß, gerade den treffen, unter dem ich mich befinde? Und wenn auch – was geht’s mich an.
So ging er seinen Weg; am Teich entlang, wo er bemerkte, daß die Kaulquappen am ganzen Ufer eine bestimmte Tiefe bevorzugten und sich derart wie ein zitterndes schwarzes Band dahinschlängelten, an den Gärten vorbei, wo wieder Dornhecken zerstört und ersetzt waren durch starrende Drahtzäune, zwischen den süßlich duftenden Kornfeldern hindurch und kam dann in den Lichtenhagen.
Dieses Wort begreift den ganzen Buschkomplex, der sich nordwärts von dem Gärten- und Felderring eine Wegstunde breit bis zum Königlichen Wald hinzieht. Es liegt dort leichter Boden, Sand über Lehm, und außer Streu und Lehm und Brennholz ist wenig zu holen; so holt man dies und läßt das Andere liegen und wachsen wie es will.
Hier hatten einmal Jungen einen kleinen Waldbrand entfacht – man kümmerte sich nicht um den Nachwuchs und ließ die Birken und Heidelbeeren sprießen; hier war vor Zeiten Lehm gegraben – nun wucherten in den aufgewühlten Löchern die Rohrkolben und quakten die Grünröcke und nebenan, umrahmt von Ginster und Brombeergestrüpp lag ein Acker mit kärglichem Hafer; auf der anderen Seite, verborgen hinter Haseln und Adlerfarn schlief eine Wiese und neben ihr kämpfte eine andere um ihr Leben gegen Binsen und Glockenheiden; hier in der flachen Mulde eines Heidestücks, deren Rand düstere Wacholder und Stechpalmen bestanden, lebten Wollgräser und halbmeterdicke Polytrichumpolster und in den trügerischen schwarzen Lachen trieb der Wasserschlauch und hob seine bleichgelben Blüten in die Sonne; und dann wieder weitausladende Kiefern und weiße Birken, Buchen und blitzgetroffene Wipfeldürre Eichen – und das Alles wuchs, wie’s ihm gefiel; wurde ein Buschstück gefällt oder eine Wiese nicht mehr gepflegt, so konnte die Natur dort selber bauen. Und der Hauptweg war sandig, bald lehmig oder torfig, bei schlechtem Wetter kaum zu gehen.
Da lag zu linker Hand ein junger Eichenbusch abgeholzt am Boden, armdick die Stämme und die jungen Blätter zerknittert und grau; aber zwischen ihnen wucherte der gelbe Wachtelweizen so üppig wie nie in den vorigen Jahren.
Euch, die ihr wachsen wolltet wie für eine kleine Ewigkeit, fällt unsere Unvernunft wie ein Schlag – aber unter euch das schmarotzende Kräutervolk kommt und kommt wieder und wird nicht schwinden trotz Streuhacke und Spaten. Aber weswegen umhüllt das Wort Schmarotzer ein peinliches Gefühl? Ist es begründet in dem Ahnen oder gar in dem absoluten Wissen von einer Ordnung der Dinge nach Gut und Böse, oder in unserem rücksichtslosen Selbsterhaltungstrieb? – Er steckte die Pflanzen, die er mit dem Stock ausgegraben und die mit einigen Gräsern verwachsen waren, zu sich, bückte sich zu einer Blume nieder und schaute ihr in die Augen und ging mit ärgerlichen Schritten wieder fort.
Ob nicht bald der blaue Enzian blühen wird? Dort im feuchten Grase unter der Eiche ist sein Ort, die Jägereiche nennt man sie. – Wie eine Blume und ein Baum so seinen Namen hat – und diese Namen sind unsere Welt. Wirklich diese Namen? Oder die Dinge, die uns diese Namen aufzwingen? –
Da prallte ihm plötzlich ein süßer Duft entgegen: ein wildes Gaisblatt hatte einen Haselstrauch überwuchert und sandte in den schwülen Abend seinen lockenden Duft; Käfer und Nachtfalter umschwärmten seine fahlen Blüten. – Da schlug dem Einsamen eine heiße Blutwelle ins Gesicht, und eilends drang er vom Wege ab in den tieferen Wald.
Der hohe Farn streifte seine Brust, die Peitschenzweige des gleißend gelben Ginsters schlugen ihm ins Gesicht, ein Kuckuck stieß seltsam laut und sich überstürzend seinen Ruf aus und zwischen den Salweiden und Dornen rief eine Drossel ihr lärmendes Warnsignal, ein Häher trug es kreischend weiter – fort ging es durch Birken und Krüppelkiefern, Sumpflachen und Heidekraut, bis er sich erschöpft auf einen modrigen Baumstumpf warf, und blitzschnelle Vorstellungen, schimmernd aufsteigende Erinnerungen breiteten ihren charakteristischen aufregenden Duft um ihn – –.
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