»Ich bin Margarete, die Tochter des Kaisers«, war das erste, was sie sagte, aber dann sagte sie nicht mehr viel. Sie blieb vor ihnen stehen, als erwartete sie, daß irgend etwas passierte. Aber Dorothea fing nur auf ihre unartige Weise zu kichern an und fragte: »Warum hast du so viele Perlen um? Willst du dich malen lassen?«
»Ich bin gemalt«, antwortete das Mädchen ernst.
»Wirklich.« Dorothea biß sich mit ihren spitzen Vorderzähnen auf die Lippe, musterte dabei die Kusine von oben bis unten, als wollte sie die Edelsteine und Kostbarkeiten zählen.
Doch Christine beherrschte sich. Zum einen war sie von anderer Wesensart als ihre stets zum Lachen aufgelegte Schwester, zum anderen hatte sie großen Respekt vor dem Kaiser und vor allem, was mit ihm zusammenhing. Christine bemerkte durchaus die übertriebene Aufmachung der Kusine, im Brokatkleid an einem gewöhnlichen Vormittag, mit Perlen und Goldketten und Diamanten im Haar. Dahinter verbarg sich etwas, was Christine nicht verstand, und mit einem beginnenden Einfühlungsvermögen für ihre Mitmenschen beugte sie sich vor und fragte: »Hast du Lust, auszureiten?«
Endlich lächelte Margarete. Ihr Gesicht erhellte sich, und sie nickte erleichtert. Christine gab Anweisung, die Pferde zu satteln.
Als die Schwestern wieder allein waren, begann Dorothea sofort an allen Fingern zu rechnen: Der Kaiser hatte erst geheiratet, als ihre Mutter starb. Wieso konnte er dann eine Tochter haben, die genauso alt war wie sie? Zuerst heiratete man, dann bekam man Kinder, als ein Geschenk Gottes, falls Gott dazu bereit war und einen nicht leer ausgehen ließ, wie es ihrer Tante Marie passiert war.
»Wie konnte der Kaiser dann eine Tochter bekommen, wenn er damals mit niemandem verheiratet war?«
Christine zermartete sich das Gehirn nach einer Antwort. Sie legte sich quer übers Bett und starrte hinauf zu dessen Himmel. Plötzlich fiel ihr etwas ein:
»Und sie heißt nur Margarete. Nicht Margarete von irgend etwas.«
»Da ist etwas faul«, sagte Dorothea, »wir fragen Johanne.«
Johanne wollte nicht raus mit der Sprache. Sie drehte ihre Finger in der Schürze, wie sie es immer machte, wenn sie sich überrumpelt fühlte, aber Dorothea ließ nicht locker:
»Wie kann der Kaiser eine Tochter bekommen, wenn er nicht verheiratet war, als sie geboren wurde?« fragte sie störrisch.
»Das war ein Mißgeschick«, rutschte es Johanne ungewollt heraus, aber sofort schlug sie sich mit den Händen auf den Mund, so als hätte sie lästerlich geredet.
»Wir sagen es auch nicht weiter. Erzähl doch, bitte«, bettelte Christine.
Aber Johanne blieb mitten im Zimmer mit den Händen vor dem Gesicht stehen, schüttelte den Kopf und sagte kein Wort mehr.
»Margarete sieht auch aus wie ein Mißgeschick«, meinte Dorothea schelmisch, während sie die Arme um den Bettpfosten schlang.
» Fräulein Margarete«, sagte Johanne zurechtweisend.
»Margarete von was?« fragte Christine sanft und hatte das Gefühl, ihrer Schwester bei der Aufklärung dieser seltsamen Sache beistehen zu müssen.
Aber sie kamen nicht weiter mit Johanne. Dann fiel ihnen das mit dem Huren ein, auch wenn sie nicht wußten, was das Wort bedeutete, war es jedenfalls etwas Unrechtes und Verbotenes, was der König von England mit einer gewissen Anna Boleyn machte. Und besonders wichtig: Davon konnte man schwanger werden.
Die Schwestern zerbrachen sich den Kopf, aber weil Johanne nichts sagen wollte, wußten sie nicht, wen sie fragen sollten. Es blieb die seltsame Situation, daß der Kaiser eine Tochter hatte, die nicht die Tochter der Kaiserin war.
Vierzehn Tage später zog der Kaiser nach Regensburg, und er hatte Prinz Hans bei sich.
Es war kein Geheimnis, daß der mächtige Mann an der Gesellschaft seines Neffen Gefallen fand. Er nahm sich Zeit, mit dem Knaben zu reden, und die Neuigkeit, daß Prinz Hans an der Versammlung der Kurfürsten teilnahm, fiel zusammen mit einer anderen, eher gewöhnlichen Begebenheit.
Christine und Dorothea bekamen neue Strümpfe. Die Schwestern musterten sie zuerst verblüfft, denn sie waren nicht genäht, sondern gestrickt. Sie merkten rasch, wie angenehm das war ohne Nähte, besonders unter der Ferse, wo es immer scheuerte. Sie schmiegten sich um ihre Beine, ohne Falten und Knicke, und waren genauso warm wie die alten aus Seide, Samt oder Leder.
So saßen sie mit gespreizten Beinen da und bewunderten die neueste Erfindung, als ihre Tante das Zimmer betrat.
Schnell warfen sie die Röcke über die Beine, sprangen auf und verbeugten sich. Sie blieb einen Augenblick stehen, sah sie lächelnd an, schickte Johanne hinaus und erzählte von Hans.
Nach der langen Reise bis Regensburg war er sehr damit beschäftigt, die Kurfürsten zu empfangen, den Bischof von Mainz und andere Mächtige aus dem Deutschen Reich. Später setzte er sich vor der großen Versammlung beim kaiserlichen Rat für die dänische Sache ein. Er machte das so schön, daß alle ergriffen waren, und den Kurfürsten hätten Tränen in den Augen gestanden.
Die Mädchen waren tief beeindruckt und sprachen lange über Hans, der bereits den Schritt in die große Welt getan hatte.
An einem späten Abend Ende August hörte Christine einen Reiter auf den Hof des Palastes in Brüssel galoppieren.
Sie setzte sich auf, lauschte und sprang aus dem Bett. Die zwei Kammerjungfern fuhren von ihren Stühlen hoch, aber Christine beschwichtigte sie, öffnete das Fenster zum Hof. Sie sah das Pferd und den gekrönten Doppeladler auf der Satteltasche. Das war ein Kurier des Kaisers.
Als Christine wieder eingeschlafen war, wälzte sie sich unruhig mit wilden Träumen hin und her. Sie war mit ihrem Vater auf der Jagd, sie wollten in Schweden Elche erlegen, aber überall war es rot. Die Erde war aufgeweicht von Blut. Es wurde von den Wurzeln der Bäume aufgesaugt und färbte den Wald so rot wie die Erde, auf der sie standen. Ihr Vater hielt an, sprang vom Pferd und nahm von kleinen, grauen Männern ohne Köpfe Säcke mit Goldmünzen entgegen, wobei er Christine als Bezahlung nach vorne schob. Und sie starrte auf die roten Hälse, aus denen das Blut sprudelte, und vor ihr zogen sie bereits mit Hans davon. Sie sah, wie er auf eine Lichtung geführt wurde, wo mehrere kopflose Männer mit großen Beilen bereitstanden, und sie schrie und schrie und schrie ...
Christine schaute in Johannes rotbäckiges Gesicht, die Frauen standen furchtsam an der Tür. Sie bekam heiße Milch mit Kräutern, und später fiel sie in einen sanften Schlummer.
Am nächsten Vormittag wurden Christine und Dorothea zur Regentin gerufen. Die Kinder sahen ihre Tante an einem Fenster stehen. Sie kam ihnen entgegen, umarmte sie, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht und in die schwarzen Falten des Kleides. Ihr Bruder Hans war bei dem schlimmsten Unwetter, dessen man sich in Regensburg entsinnen konnte, vom Fieber ergriffen worden. Nach einem mehrtägigen Kampf mit der Krankheit hatte sein junger Körper aufgegeben, und mit dem Namen Jesu auf den Lippen sei er verschieden.
Hans war tot.
Christine betete zu Gott. Sie kniete auf dem Steinboden und bat den himmlischen Vater, er möge sie begreifen lassen, warum er so viele und so vieles nahm.
Schließlich brachte man sie mit hohem Fieber zu Bett. Und sie war nur von dem einen Gedanken beseelt, dorthin zu kommen, wo ihre selige Mutter, ihr geliebter Bruder und die geliebte Tante waren.
Doch am vierten Tag erwachte sie und war fieberfrei. Eine kühle Herbstluft wehte ihr von den geöffneten Fenstern entgegen, es roch nach frischem Obst, und über die Gesichter um sie herum liefen Freudentränen.
Johanne schloß sie in die Arme und stammelte: »Gepriesen sei die Jungfrau für meine kleine Madame Chrêtienne.«
Ergriffen und völlig aufgelöst lief Johanne aus der Stube.
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