1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 „Und ich hab’ gedacht, in Lahellemoen gäb’s bloß doofe Leute, weißt du“, sagt Inger zu Lillian. „Aber jetzt kenne ich da eine, die nicht doof ist.“
„Ach? Wen denn?“
„Beate Halvorsen. Sie hat vor Torsruds Augen einen Zettel weggezaubert.“
„Wie hat sie das denn geschafft?“
„Ach, ich hab’ vergessen, sie zu fragen.“
Hinter ihnen kommt Svend Akselsen aus Trara angefahren und läßt seine Handbremse laut aufquietschen. Er geht in die A-Klasse. Lillian läuft knallrot an und starrt geradeaus. „Kommst du um acht mit in die Wochenschau?“ ruft er, er selber ist auch nicht weniger rot. „Ja“, antwortet Lillian und tut so, als hätte sie ihn gerade erst entdeckt. Kaum hat sie geantwortet, tritt Svend hektisch in die Pedale und saust Fergestedsveien hinunter, ohne mit den Händen den Lenker zu berühren.
„In Trara wohnen auch nicht bloß doofe Leute“, sagt Lillian.
Dann schweigen beide, tief ergriffen von dieser Erkenntnis.
„Ich schwöre bei Gott...“
Die Jungen standen auf dem Schulhof, hielten die rechte Hand schräg vor sich und sagten: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid...“ und kannten den ganzen Hitlereid auswendig. Kjell Grunder an der Spitze mit seinem dicken großen Kopf und seinem Jokergesicht. Stramme Rücken, feierliche Mienen. Die Mädchen, Gravdahl und Rolf Magnor sahen zu. „Hört mit dem Quatsch auf! Mehrere von den Lehrern hier haben im Konzentrationslager gesessen!“ Vesia Jørgensen, die Gymnastiklehrerin der Mädchen, stand plötzlich vor ihnen. Ihre Stimme bebte. Die Jungen sahen sie an, ließen die Arme sinken, liefen davon. Als sie außer Hörweite gekommen waren, lachten sie. Und als Vesla Jørgensen mit ihrem geschmeidigen Rücken und ihren Turnschuhen im Altbau verschwunden war, legten sie den Eid noch einmal ab. Heil, Heil!
Muldvig trat in der nächsten Deutschstunde neben sein Pult und stemmte dabei die Hände in die Seiten. Er rümpfte die Nase. „Nein“, sagte er mit leiser Stimme. „Das da... das da... müßt ihr... an den Nagel hängen.“ Alle waren still. „Viele von den Lehrern hier sind... nach Deutschland geschickt worden. Ihr müßt damit aufhören.“
Die Klasse sah Muldvig an. Sie warteten. Niemand sagte jemals etwas darüber, was die von den Deutschen festgenommenen Lehrer erlebt hatten. Es wurde nur geflüstert. Alle flüsterten über Torsrud. Und über Konsul Saxeby. Und Sundt, bei dem sie Zoologie und Botanik hatten, war der nicht in Grini gewesen? Einige behaupteten, er sei von der Gestapo gefoltert worden. Deshalb sei seine Schulter schief. Aber die, die selber im KZ gesessen hatten, sagten niemals auch nur ein Wort. Weder über sich noch über die Deutschen. Und die anderen Lehrer sprachen nur darüber, wie die Deutschen an der Nase herumgeführt worden waren. Sie erzählten witzige Geschichten, daß die Deutschen Moelv wie „Mölf“ ausgesprochen und wie die Deutsche-Dirnen „Alf Vidersen“ als Kindsvater angegeben hatten, und wie ein Deutscher einmal einer Mutter mit ihrem Kind in der Straßenbahn seinen Platz angeboten hatte, worauf das Kind mit lauter Stimme zu seiner Mutter sagte: „Das war aber ein lieber Schweinehund, Mama.“ Im Krieg hatten sie viel zu lachen gehabt – insgeheim –, und das erzählten sie jetzt.
„Ich bin nicht selber im KZ gewesen“, sagte Muldvig mit noch tieferer Stimme als vorher. „Ich habe damals studiert. Zufällig ist mir das erspart geblieben. Die Reihe wurde fünf Studenten vor mir geteilt. Mehrere Bekannte von mir sind nicht zurückgekommen.“ Er schluckte. Änderte seine Stellung, schob das andere Bein schräg nach vorn. Er war ein ziemlich kleiner Mann. Er trug immer einen etwas zu weiten Anzug. Kleine Augen. „Aber die, die zurückgekommen sind“, fuhr er fort, „die wollen nicht darüber reden. Was sie erlebt haben, ist grausamer, als wir uns das vorstellen können.“
Zum erstenmal hatte ein Lehrer auch nur soviel zu ihnen gesagt. Nicht mehr, als sie ohnehin schon gewußt hatten. Aber in seiner Stimme hatte Bewegung gelegen.
Was hatten sie damals erfahren, als sie noch klein waren und mit einem norwegischen Papierfähnchen, das die Erwachsenen ihnen in die Hand gedrückt hatten, auf die Straße gerannt waren? Norwegen hatte den Krieg gewonnen! Yippieyeh, yippieh, yiippieh-yeh! hatten sie gesungen.
Drei, vier Jahre alt, waren sie mit den großen Kindern losgezogen. Hatten V auf das Kopfsteinpflaster geschrieben. Das war der erste Buchstabe, den sie lernten. Er bedeutete „vant“, gewonnen. Den Krieg gewonnen! Für sie hatte es bis dahin nichts anderes gegeben als „Krieg“. Was war der Krieg? Nun war er weg. Und Norwegen hatte ihn gewonnen. Hurra!
Aber jetzt – jetzt sind sie zehn Jahre älter. Jetzt sitzen sie hier vor ihrem Lehrer und wollen wissen, was damals eigentlich passiert ist. Norwegen hat gewonnen. Ja. Aber was hat es gekostet? Junge Männer hatten graue Haare bekommen. Die Schüler der 1 B senken die Köpfe über ihre Tische. Aber Muldvig sagt nicht mehr.
Zwei Tage später stand morgens, als sie zur Schule kamen, mit weißer Kreide am Tor: „Es gibt nur einen Führer!“ Da sahen sie Torsrud wie einen Schatten, er sprang vom Fahrrad, hüpfte hoch, denn es stand ziemlich weit oben, hüpfte noch einmal hoch und versuchte die Schrift mit der Hand wegzuwischen. Er war wie wild. Und er bekam es auch nicht richtig weg. Sie hatten einen Lehrer noch nie so wild gesehen.
Jetzt griff der Konrektor ein. Einzelne Jungen, aus der 1 B und anderen Klassen, wurden zum Rektor befohlen.
„Sie wissen nicht, was das bedeutet“, sagte Liv Abrahamsen. „Sie glauben, das wäre ein Spiel.“ Ihr Vater hatte in Sachsenhausen gesessen, er war Pastor und hatte sich nicht beugen wollen. „Aber er redet auch nie darüber“, fügte Liv hinzu.
„Muß man das denn so schrecklich ernst nehmen? Die machen sich doch bloß einen Jux“, sagte Rolf Magnor.
„Das haben sie damals auch gesagt. Sie haben über Hitler gelacht und ihn als Emporkömmling bezeichnet“, sagte Inger.
„Willst du etwa Kjell Grunder mit Hitler vergleichen?“ Alle sahen Inger an. Inger wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
„Es geht doch um Respekt vor anderen Menschen“, erklärte Liv. „Die, die das ans Tor geschrieben haben, haben keinen Respekt vor den Lehrern, die im KZ waren.“
Als die Jungen vom Rektor zurückkamen, einer nach dem anderen, sagten sie nichts. „Was hat er denn gesagt?“ fragte die Klasse in der Pause.
„Ist doch egal.“
„Ich schwöre bei Gott...“
„Ach, halt die Fresse!“
„Die knebeln uns, wie sie selber geknebelt worden sind.“
„Das ist nicht dasselbe.“
„Ist es wohl. So, wie sie uns tyrannisieren, sollte man nicht glauben, daß sie je tyrannisiert worden sind.“
Die Klasse stritt sich. Wer hatte recht? Wen konnten sie fragen? Davidsen. Der war nicht so alt. Im Krieg war er noch ein Schuljunge gewesen. Er hatte nicht vergessen, wie es ist, jung zu sein.
„Davidsen, warum mußten die Jungen deshalb zum Rektor?“ Rolf Magnor fragte. Er war dafür geeignet. Klang immer aufrichtig. Davidsen schluckte.
„Darüber macht man keine Witze.“
„Aber das macht ihr doch selber auch.“ Das war Inger.
„Ihr erzählt nur Heldengschichten. Sabotage, und wie die Leute nach Schweden geflohen sind. Nie erzählt uns jemand, wie es wirklich war.“
„Aber die Heldengeschichten sind auch ein Teil der Wirklichkeit.“
„Nicht alle waren Helden.“
Nicht alle waren Helden? Die, die keine Helden waren, waren Landesverräter. Was hatte sie jetzt sagen wollen?
„Nein, einige standen auf der falschen Seite“, erwiderte Davidsen. Inger schwieg. Liv meldete sich. „Ich finde es richtig, daß eingegriffen worden ist“, sagte sie. „Wir jungen Menschen von heute begreifen nicht, wie es im Krieg war.“
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