1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Damals wußten sie vieles nicht, was sie seitdem erfahren haben“, sagte Inger am nächsten Tag auf dem Schulhof zu Beate. „Man liest die Geschichte von hinten. Und dann läßt sich leicht behaupten, man hätte vorher klüger sein sollen.“
„Aber alle wußten doch wohl, daß die Deutschen uns überfallen hatten?“ fragte Beate.
„Ja, aber was sollten sie denn dagegen tun? Sie waren verwirrt.“
„Haakon VII. nicht“, antwortete Beate.
„Ja, aber der war schließlich auch König.“
„Nicht alle Könige treffen die richtige Entscheidung. Denk an alle die verrückten Könige, über die wir im Geschichtsbuch lesen. Aber Haakon VII. hat ‚nein‘ gesagt.“
Ja, das wußte Inger. „Das ‚Nein‘ des Königs wurde ein ‚Ja‘ zum Leben.“ Dieses Zitat hatte Papa oftmals bitter vor sich hingeflüstert. Es war unmöglich, mit Papa über den König zu sprechen. Aber das wollte sie Beate nicht erzählen.
„Meine Eltern waren Mitläufer“, sagte sie. Es war das erstemal, daß sie so etwas erwähnte.
„Mitläufer?“
„Ja. Sie haben weder ja noch nein gesagt.“
Beate hatte noch nie etwas von Mitläufern gehört. Sie hatte überhaupt nur wenig über den Krieg gehört. Im Krieg war ihr Vater verschwunden. Das hatte sie jetzt im Herbst ihre Tante sagen hören. Und am letzten Sonntag hatte sie zufällig gehört, wie ihre Mutter und ihre Tante über ihn sprachen, ohne zu wissen, daß Beate im Haus war. Sie hatte gehört, wie ihre Tante sagte, das mit Ola im Krieg sei furchtbar gewesen und traurig für Beate. Als sie hörten, wie Beate sich im kleinen Zimmer bewegte, hatten sie ihr Gespräch jäh abgebrochen. Danach hatten sich Beates Gedanken über ihren Vater geändert. Jetzt war sie sicher, daß die Deutschen ihn erschossen hatten. Das war die ganze Erklärung, und es tat so weh, daß ihre Mutter nicht darüber reden wollte. Aber als sie später in der Woche ihre Tante gefragt hatte, hatte die nur dasselbe gesagt wie schon einmal. Der Ola war einfach verschwunden.
„Ich weiß nicht, was meine Eltern während des Krieges waren“, sagte Beate. „Jedenfalls waren sie gute Norweger. Meine Mutter zumindest. Mein Vater ist einfach verschwunden.“
„Verschwunden?“
„Ja.“
„Aber warum?“
„Ich glaube, die Deutschen haben ihn erschossen“, antwortete Beate.
„Aber weißt du das denn nicht sicher?“
„Nein. Er ist 1943 verschwunden.“
„Weiß deine Mutter das denn nicht?“
„Die kann ich nicht danach fragen. Sie waren nicht verheiratet, weißt du. Und sie saß da mit der ganzen Schande. Das war ich, verstehst du.“
Inger wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie wußte, daß Beate keinen Vater hatte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß es Mütter gab, die ihren Kindern nicht die Wahrheit sagen wollten. Zu Hause erfuhr sie immer, was früher passiert war, so schlimm es auch sein mochte. In ihrer Familie waren beide Seiten vertreten gewesen, Widerständler und Landesverräter, es hatte Scheidungen und Tragödien gegeben. Aber Mama versuchte nie etwas zu verheimlichen.
Inger ahnte auch nicht, was es für ein Gefühl war, ein Kind zu sein, das eine Schande darstellte. Sie begriff ohnhin nicht, was dieses Wort „Schande“ eigentlich bedeutete. Irgendwer hatte einfach erfunden, daß es eine Bedeutung hatte.
„Schande ist nichts“, sagte Inger. „Sie ist bloß Luft. Nur etwas, das irgendwer erfunden hat. Es gibt keine Schande. Es gibt bloß echt und unecht.“
„Aber ein uneheliches Kind ohne echte Familie ist auch irgendwie nicht echt.“
„Nein“, widersprach Inger. „Stimmt nicht. Unehelich ist bloß ein blödes Wort. Du bist genauso Mensch wie ich!“
Da nahm Beate ihre Hand. Sie gingen weiter. Machten am Ende des Schulhofes kehrt, so wie alle anderen. Alle gingen hin und her, hin und her. In jeder Pause fand eine richtige Völkerwanderung statt. Niemand hier rannte. „Inger?“ fragte Beate. „Das, was ich dir erzählt habe, weißt du? Das darfst du keiner Menschenseele weitersagen.“
Hartvig stand am Rande der Jungengruppe und lachte über etwas, das Rolf Magnor gesagt hatte. Irgendeine Frechheit über Spåvang, den Religonslehrer. Dann lachte er über etwas, das Kjell Grunder sagte. Dann lachte er über das, was Rolf Magnor darauf erwiderte. Nun sagte Leif Monradsen etwas, und das wollte er kommentieren, aber statt dessen sagte Kjell Grunder etwas. Und deshalb lachte er darüber.
Sie standen da und boxten sich gegenseitig beim Reden. Eigentlich war es gar kein richtiges Gespräch. Nur Ausrufe, über die man lachen oder die man mit „verflixt!“ kommentieren konnte. Nur selten gab es ein Thema. Hartvig hatte keine Lust, alles mögliche mit „verflixt“ zu kommentieren, und zum Boxen hatte er auch keine Lust. Also blieb ihm nur das Lachen.
Er war ganz versessen darauf, von Leif gemocht zu werden. Er lachte immer am lautesten, wenn Leif etwas sagte. Gleich darauf konnte er dann zu Leif sagen: „Ganz schön platt, Monradsen“, dann lachte Leif, und damit hatten sie eine Art Gespräch laufen. Aber er lernte ihn trotzdem nicht kennen. Er lernte niemals jemanden kennen, obwohl er sich Mühe gab. So war es immer schon gewesen. Am liebsten hätte er Konrad Storås und Nils Berg aus der 2. kennengelernt und mit ihnen über Philosophie diskutiert. Oder den, der Kaspar Olesen hieß und Anthroposoph war. Sie gingen in blauen Arbeitskitteln auf dem Schulhof hin und her und nickten einander ernst zu. Wie erwachsene Männer. So wollte Hartvig auch werden.
Mit den Mädchen war es etwas leichter. Aber Mädchen waren nicht für ernste Gespräche geschaffen. Sie waren für etwas anderes geschaffen, und Hartvig war ganz beklommen zumute, wenn er daran dachte. Aber wie er es angehen sollte, um mit einem Mädchen bekannt zu werden, wußte er auch nicht. Die anderen redeten von einem Dachboden, den sie abends aufsuchten. Mittwochs abends gingen sie in die Wochenschau und saßen auf der Galerie. So mußte man es wohl machen. Aber Hartvig bekam kein Mädchen ab, obwohl er in die Wochenschau ging. Nie sah ihn eine an, weder vor noch nach der Vorstellung, und während der Vorstellung konzentrierten sie sich wohl darauf.
Was sollte er auch mit Mädchen? Die hatten doch bloß Filmstars im Kopf. Im Oktober war die Nachricht von James Deans Tod gekommen. „Vor einigen Tagen“, hatte es in den Zeitungen geheißen. Die Mädchen seufzten und stöhnten. Sie redeten von James Deans hellbraunen Haaren, seinem weichen, geschwungenen Mund und seinen wehmütigen Sternenaugen. „Die Augen!“ sagten die Mädchen, tagelang sagten sie nichts anderes. Sie hörten, daß sich Mädchen drüben in Amerika bei Paso Robles, wo er tödlich verunglückt war, auf die Straße legten und nicht glauben wollten, daß er tot war. Sie wollten die Straße erst wieder freimachen, wenn ihnen jemand versicherte, daß er noch lebte. Da niemand ihnen das erzählen konnte, hatten mehrere Selbstmord begangen.
So waren Mädchen. Hartvig tadelte seine Klassenkameradinnen im „Radiergummi“, der Klassenzeitung, die sie in den Norwegischstunden herstellten. Was für eine Vorstellung, um einen Typen am Ende der Welt zu weinen und zu wehklagen, den sie nicht einmal gekannt hatten, schrieb er. Das war total idiotisch, einfach ein schwachsinniger Tick, und sie sollten sofort damit aufhören. Außerdem hättet ihr ihn ja doch nicht heiraten können, schrieb Hartvig. „Woher weißt du das?“ fragte Astrid ihn nachher auf dem Schulhof. Sie war zutiefst verletzt. Die Mädchen trauerten unbeirrt weiter.
Jetzt gingen dahinten Liv Abrahamsen und Stina Weidel mit der Zahnklammer und diskutierten über die Auferstehung. Was wußten die denn darüber? Sie sprachen so laut, daß der ganze Schulhof sie hören konnte. Stina war nämlich gerade frisch bekehrt. Eingesperrt in die Einfalt des Kleinbürgertums, genau wie seine Eltern. Land, Land, Land, lausche den Worten des Herrn. Aber wenn irgendwelche Mädchen zu ihm herüberkamen, diskutierten sie niemals solche Fragen. Sie juxten bloß. „Was liest du denn jetzt schon wieder, Gravdahl?“ fragten sie. Schon die Frage war ein Witz. Das war ihm klar. Anfangs hatte er nämlich ernsthafte Antworten gegeben. Aber warum sollte er mit ihnen über Goethe reden? Das einzig Geistige, das sie interessierte, waren die Top Twenty von Radio Luxemburg. Wenn man diese tierischen Geräusche überhaupt als Geist bezeichnen konnte. „You are my special angel“, jaulten die Mädchen auf dem Schulhof.
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