Auf dem weichen, grasbewachsenen Waldweg galoppierten sie an. Es war gut, dass Reuter sie erst jetzt hinausreiten ließ, jetzt, da alle Anfangsschwierigkeiten überwunden waren. Undenkbar, sich etwa jetzt angstvoll an den Sattel zu klammern oder dem Pferd wehzutun durch einen Zügel, der ins Maul riss. Es war ein unsagbarer Zauber, hier zu reiten; allen war feierlich zu Mute, nicht nur Anne, sogar Erika. Jedenfalls strahlten aller Augen, als sie heimkamen, und keiner konnte sich gleich von seinem Pferd trennen. Zucker und Mohrrübenstücke wurden ihnen auf der flachen Hand gereicht, und jeder sprach und liebkoste und schäkerte mit seinem vierbeinigen Kameraden. Reuter trat zu Anne.
„Wie ist das morgen früh? Kommen Sie wieder zum Füttern und Putzen?“
„Wenn ich kann, natürlich. Frau König erwartet Besuch, da gibt es vielleicht am Vormittag mehr zu tun“, sagte Anne zögernd. „Aber zum Füttern bin ich ganz bestimmt hier.“
„Nun, wenn es früh zum Reiten nicht mehr reicht, könnten Sie ja ausnahmsweise morgen Nachmittag mittun“, sagte Reuter. „Ich habe zwei Schülerinnen aus der Stadt hier, die nur sonntags Zeit haben. Wollen Sie?“
„Gern“, sagte Anne glücklich. „Nachmittags kann ich bestimmt.“
„Dann komme ich auch“, sagte Peter, der das letzte gehört hatte, „die Nixe ist nicht mehr die alte. Sie geht gar nicht mehr gern an den Zügel. Sie muss mal wieder richtig gearbeitet werden.“
„Schön, kommt ihr beide also morgen“, sagte Reuter. Er tippte mit der Gerte an die Mütze und ging.
Am nächsten Morgen war Anne noch mehr bestrebt als sonst, alle ihre Pflichten so genau wie möglich zu erfüllen. Sie hinterließ im Kühlraum eine geradezu märchenhafte Ordnung und Sauberkeit, half Herta dann in der Küche und deckte den Mittagstisch besonders schön mit Blumen in allen Vasen. Nach Tisch zog sie sich um, seelenvergnügt, fuhr in die schneeweiße Hemdbluse und freute sich an den spiegelblank geputzten Stiefeln. Margot hatte sich hingelegt. Sie gab ihr einen freundschaftlichen Klaps und sauste ab.
Reuter stand schon im Stall und unterhielt sich mit den beiden Damen aus der Stadt und Peter. Er hatte sein freundlichstes Gesicht aufgesetzt und begrüßte Anne, stellte sie den Damen vor und meinte dann, sie wollten heute des schönen Wetters wegen nicht in der Halle, sondern in der Bahn draußen reiten. Anne und die andern sattelten, Peter half den beiden Damen, die sich dabei recht ungeschickt anstellten, und führte die Pferde hinaus. Es war heiß, aber unter den hohen Bäumen war die Luft herrlich angenehm. Anne merkte sehr bald, dass sie mehr konnte als die beiden Damen aus der Stadt, die in Schneiderjacken und mit Handschuhen und eigenen Gerten ritten. Es machte ihr Vergnügen, und sie plinkerte Peter zu. Reuter war nicht zu Pferde, sondern stand in der Mitte, schlug mit seiner Gerte immer wieder an seine Stiefelschäfte und kam langsam in Hitze, denn besonders die eine Dame wurde mit ihrem Pferde nicht fertig.
„Reißen Sie es doch nicht ins Maul, es weiß ja nicht, was es soll!“, rief er grollend. „Linker Schenkel ran, der linke ist der treibende. So galoppiert er im Leben nicht an. Halt! Anne, zeigen Sie es mal.“
Anne wurde dunkelrot. Sie war noch nie allein, also außerhalb der Abteilung, geritten, würde sie jetzt versagen? Reuter hatte das Pferd der nun ziemlich kopflosen Dame am Zügel gefasst und führte es in der Mitte des Hufschlags. Die andere und Peter schlossen sich an. Der Goldpeter schien zu meinen, dass auch er hinterhergehen sollte – sie parierte durch, so weich sie konnte. Er stand.
„Also – Arbeitstempo Terrab!“
Wahrhaftig, der Goldpeter war ein Goldkerl! Anne trieb und hob sich in den Bügeln – er trabte. Sie nahm die Knie ran, die Absätze tief und regulierte die übrige Körperhaltung. Das war gar nicht schwer. Sie sah nichts als die spielenden Pferdeohren vor sich und dahinter das Grün des Laubes.
„Scherrit. Aus dem Schritt angaloppieren – im natürlichen Tempo – Ga-lopp!“
Wirklich, auch jetzt gehorchte das Pferd. Anne war gerührt. Nur zu oft hatten ihr die andern, die schon länger ritten, erzählt, dass die Pferde den Befehlen nur gehorchten, solange sie eins hinter dem anderen in der Abteilung liefen. „Sie kleben zusammen wie die Briefmarken“, hatte Karl einmal gesagt, „wenn du eins allein hast, kannst du wieder von vorn anfangen mit Lernen.“
Aber Goldpeter tat, was sie wollte. Vielleicht hatte er selbst Lust, zu galoppieren? Vielleicht aber gab sie tatsächlich die richtigen Hilfen? Ein Glücksgefühl ohnegleichen durchströmte sie. Was war sie denn selbst? Ein kleines, dummes, junges Ding, nie im Leben fähig, sich in Bezug auf Kraft mit solch einem stolzen und edlen Tier zu messen! Und doch gehorchte es ihr, es tat, was sie wünschte, es lauschte auf ihren Zungenschlag und fühlte mit der Lippe am Zügel entlang nach ihrer regierenden Hand. Ein leichter Druck mit dem Schenkel, nicht befehlend, nur übermittelnd, mitteilend – und schon fügte es sich ihrem Willen.
Zum ersten Mal verstand sie das Wort „Hilfe“ richtig. Sie half dem Pferd, sie zwang es nicht, sie wurde eins mit ihm, eine Absicht, ein Wille. Und das alles, weil sie es liebte, weil sie sich geduldig bemüht hatte, es zu verstehen und es zu lehren, dass es sie verstand.
„Gut so. Ja, das nennt man reiten, meine Damen“, sagte Reuter. „Noch einmal: Scherrit. Und aus dem Schritt angaloppieren! Aber diesmal nicht auf meinen Zuruf, sondern allein. Reiten Sie im Schritt bis an die große Linde und dann Galopp. Los!“
Am Rande des Parkes kamen ein paar Spaziergänger vorbei, sie blieben stehen und sahen herüber. Anne bemerkte es gar nicht, sie war viel zu konzentriert auf ihr Pferd und ihre Aufgabe.
Aber Peter erkannte, dass Margot dabei war, sie ging neben einem großen, hageren Herrn. Im nächsten Augenblick kehrten alle rasch um und verschwanden hinter der dichten Taxushecke.
Gerade galoppierte Anne wieder an, genau an der richtigen Stelle. Das Herz lachte ihr.
„Jawohl“, sagte Reuter befriedigt. „Sehen Sie, dieses junge Mädchen lernt was. Wie lange Anne schon reitet? Ein Vierteljahr und durchschnittlich zweimal die Woche. Manchmal mehr. Das ist nicht viel, nein. Aber sie hat die Liebe zum Pferd, die nötig ist, sie beschäftigt sich jede freie Minute im Stall. Sie dient der Kreatur. Sie sollten einmal sehen, wie sie dem Pferd die Trense ins Maul schmeichelt, wie sie ihm den Sattel auflegt. Jeder Griff ist behutsam und voller Sorgfalt und Liebe. So muss es sein! Kommen, sich auf ein gesatteltes Pferd setzen und eine Stunde reiten, das genügt nicht. Das ist – im höchsten Fall! – das Erlernen eines Handwerks, einer Fertigkeit. Aber Reiten, richtig Reiten ist eine Kunst. Und Kunst ist etwas Heiliges, verstehen Sie mich, meine Damen? Diese junge Angelika da versteht das aus sich selbst heraus, mit ihr brauche ich darüber nicht zu reden. In ihr steckt das Zeug zur Künstlerin, zur wahren Künstlerin, der die eigene Person gleichgültig, die Kunst aber alles ist.“
Er war ordentlich in Feuer gekommen und merkte nicht, dass die Spaziergänger, die vorhin außerhalb des Zaunes gestanden hatten, schon vor einem Weilchen hinter ihn getreten waren.
Margot gab ihm einen kleinen Schubs, sie sah die Katastrophe kommen, konnte sie aber nicht aufhalten.
„Herr Reuter – bitte. Sie bekommen Besuch!“, flüsterte sie ihm zu. Er wandte sich um.
„Scherrit, Anne. Genügt. Sie haben es tadellos gemacht!“, rief er ihr zu. Sie parierte durch.
„Verzeihung, sprechen Sie mit meiner Tochter? Doktor Birkner“, stellte sich der hagere Herr mit einer knappen Verbeugung vor.
„Jawohl. Reuter.“
Sie begrüßten sich. Reuter machte bekannt und war keineswegs im Bilde, was nun hereinbrechen würde.
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