Christoph Osigus ergänzt: „Wir versuchen, in die Köpfe der Torhüter zu kommen, uns in ihre Situation zu versetzen. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis zu den Torhütern, sind Vaterersatz und Ausheulbecken. Dabei hilft uns, dass wir alle selber im Tor gestanden haben, die Besonderheiten des Torwart-Daseins kennen. Sie wissen, dass wir ihr erster Ansprechpartner sind. Dass wir uns auch in schwierigen Zeiten vor sie stellen und mit den Mannschaftstrainern in die Diskussion gehen.“ Auch die Keeper werden zu gegenseitigem Respekt erzogen. Matuschak: „Das Konkurrenzdenken können die Jungs dann bei den Profis haben. Bei uns würde sie das blockieren, sie sollen voneinander lernen. Und sich nicht gegenseitig aus dem Nest werfen.“
„Wenn der Torwart den Ball hat, fängt das Spiel erst an“
Ein Grundsatz der technischen Ausbildung ist aber sicherlich: Der Torwart ist Teil des Spiels. Die Schalker Torhüter müssen fußballerisch versiert sein – mit beiden Füßen. Und handlungsschnell. Manuel Neuer wird hier zum Musterschüler.
Der Torwart ist der erste Aufbauspieler und hat in dieser Funktion handlungsschnell zu sein. Matuschak: „Wenn der Torwart den Ball hat, fängt das Spiel erst an.“ Eine seiner Übungen sieht so aus: An der Mittellinie werden drei kleine Tore aufgebaut. Wenn der Keeper den Ball gefangen hat, muss er ihn möglichst schnell in eines der Tore schießen oder werfen. Geübt wird das blitzschnelle Einleiten eines Angriffs. Gegen einen Gegner, der gedanklich noch im eigenen Angriff steckt. Matuschak: „Wenn der Torwart den Ball hat, muss er ein Ziel haben. Ich habe den Jungs immer gesagt: Der Ball muss genau kommen. Der Torwart muss ein Auge dafür haben, wo jemand anspielbar ist. Das Auge kommt zuerst. Ich habe ihnen gesagt: Alles, was ihr macht, muss mit Sinn und Verstand erfolgen.“ Die Übung mit den drei kleinen Toren ist keine Sensation. Heute ist sie sogar in den Nachwuchsabteilungen vieler Amateurvereine eine Selbstverständlichkeit. Aber Matuschak fing früher als andere damit an, diesen Aspekt des Torwartspiels zu trainieren.
Ginge es nach Christof Osigus, so würde es bis zum zwölften Lebensjahr keine torwartspezifische Ausbildung geben. Zumindest würde man keinen Spieler so früh auf diese Position festnageln. „Es ist leichter, aus einem Feldspieler einen guten Torwart zu machen, als umgekehrt.“ Seine Torhüter nehmen dienstags ganz normal am Mannschaftstraining teil, absolvieren hier kein anderes Programm als die Feldspieler.
Und sonstige Trainingsinhalte? „Du musst einfach alles trainieren, was im Spiel vorkommt.“ Beispielsweise lange Abwürfe in den Lauf. Wie nahe der Torwart an den Rest der Mannschaft rückt, dokumentiert folgende Aussage Matuschaks: „Nur für sich ein gutes Spiel zu machen, das reicht nicht. Du musst auch für die Mannschaft ein gutes Spiel machen, dir einen Status in ihr erarbeiten.“ Der Torwart soll kein Sonderling sein, der seinen Job nur für sich verrichtet. Der Torwart muss im Spiel eine Bindung an den Rest der Mannschaft herstellen. Er kann auch ein gutes Spiel machen, ohne bei drei „Unhaltbaren“ zu glänzen: dadurch, dass die Mannschaft seine Präsenz spürt, dass er dirigiert, gut antizipiert, für einen bedrängten Spieler anspielbar ist, den Feldspielern also hilft, das Spiel aufbaut und verlagert. „Viele träumen davon, Bälle aus dem Winkel zu holen und durch den Torraum zu fliegen. Aber es kommt auch darauf an, unangenehme Bälle zu halten.“
Als Gegenmodell zur Schalker Ausbildung wird häufig die Lauterer Torwartschule von Gerry Ehrmann aufgeführt. Der Bundesligatorwart Ehrmann maß nur 1,84 Meter, war aber extrem muskulös, weshalb man ihn auch „Tarzan“ nannte. Er war mit guten Reflexen ausgestattet und stark in Eins-gegen-eins-Situationen. Bei Flanken hingegen zeigte er Schwächen. Es heißt, die Lauterer Schule würde Muskelpakete und Reaktionstorhüter hervorbringen – mit Defiziten beim Mitspielen. Als typische Produkte dieser Ausbildung gelten Roman Weidenfeller und Tim Wiese. Sicher wird in Kaiserslautern ein starker Akzent auf Kraft gelegt. Aber auch die Ehrmann-Schule kann auf eine Reihe von späteren Profis verweisen – neben den bereits genannten Weidenfeller und Wiese u. a. noch Florian Fromlowitz, Thomas Sippel und Kevin Trapp.
War es die Schalker Fußballschule, die Manuel Neuer zum Welttorhüter formte? Zu ihrem eigenen Beitrag geben sich Matuschak und Osigus äußerst bescheiden: Es sei nicht nur die gute Torwartschule, die Manuel zu dem gemacht habe, was er heute ist. In der Art, wie er spiele, liege auch eine große Portion persönlicher Entscheidung. Christof Osigus: „Das Größte, was er selber mitgebracht hat, ist sein Talent.“ Weshalb man den Beitrag seiner Torwarttrainer und Trainer nicht überbewerten solle. „Jeder hat sein Mosaiksteinchen dazu beigetragen. Aber es ist vor allem sein Talent.“ Und Lothar Matuschak: „Wenn du nicht die Mentalität für diese Art von Spiel hast, dann geht das nicht. Du musst schon den Fußballer in dir haben, um so zu spielen wie Manuel.“
„Helmut, wir dürfen den nicht abgeben.“
Im Übergang vom ersten zum zweiten Jahr C-Jugend, also von der U14 zur U15, droht Neuer auf Schalke das Aus. Der 13-Jährige wird für „zu klein“ befunden. Man legt ihm einen Wechsel zu einem anderen Verein nahe. Aber im Verein gibt es mit Matuschak, Osigus und Hüneborn Trainer, die einen jungen Spieler nicht nur in der Momentaufnahme betrachten, sondern auch perspektivisch.
Doch selbst Matuschak ist zunächst irritiert, als er bei der Sichtung für den älteren C-Jugend-Jahrgang Neuer begegnet. Als sich aus einer Gruppe von Spielern „so’n Kleiner rauslöste“, hofft er zunächst, dass das nicht der Torwart ist. Matuschak fragt sich, warum ausgerechnet dieser Junge Torwart werden wolle. Der Kerl sei „kaum größer als eine Tischkante“ gewesen und habe eine „piepsige Stimme“ und ein „Milchgesicht“ gehabt. Aber der Kleine ist auch ein Schelm, ein großes Schlitzohr, ein pfiffiger Kerl. Fleißig, aber nicht übermäßig fleißig. Schon gar nicht verbissen. Eher etwas phlegmatisch. Aber der Junge sei auch dazu in der Lage gewesen, sich auf den Punkt zu konzentrieren. Und: Er habe einen guten Charakter besessen. Irgendwie imponiert ihm der Kleine. Matuschak erkennt schnell: „Alles, was ein Torwartspiel ausmacht, steckte in ihm. Man konnte sehen, dass er gleich mehrere Veranlagungen hatte. Also habe ich ihn gefragt: ,Willst du Torwart werden?‘ Er antwortete: ,Ja.‘ Dann habe ich ihm gesagt: ,Komm, ich helfe dir.‘ Wenn ich ehrlich bin: Das habe ich zu jedem unserer jungen Torhüter gesagt.“
Neuers Befürworter ernten Skepsis und müssen sich fragen lassen, „ob wir Eishockeytorhüter ausbilden wollten“ (Osigus). Hüneborn: „Wir sagten: Manuels Eltern sind doch groß, sein Opa ist es auch. Da würde also noch etwas kommen.“
In dieser Situation registrieren die Trainer die mentale Stärke ihres Schützlings. Als dessen Zukunft heiß und kontrovers diskutiert wird, scheint dies eine Person überhaupt nicht zu tangieren: Manuel Neuer. „Er ist in dieser Situation überhaupt nicht nervös geworden“, erzählt Osigus: „Er hat einfach sein Ding weiter gespielt.“ Aber Matuschak ist auch überzeugt: „Manuel hätte Rotz und Wasser geheult, hätte man ihn weggeschickt. Er war doch schon so lange im Verein.“
Eigentlich hat man für die U15 bereits zwei Torhüter. Und in der Regel sind auch nicht mehr als zwei vorgesehen. Matuschak geht nun zu Helmut Schulte: „Helmut, wir dürfen den nicht abgeben. Den müssen wir behalten. Auch wenn wir dann in dieser Altersgruppe drei Keeper haben und er nur der dritte Torwart ist.“ So wird mit Neuer eine Ausnahme gemacht.
Die Karriere junger Fußballer ist manchmal extrem abhängig von den Entscheidungen anderer Menschen. Hätte sich Lothar Matuschak nicht durchgesetzt oder „auf Schalke“ eine andere Torwartphilosophie geherrscht, hätte man den Torwart Neuer möglicherweise auf der großen Bühne nie gesehen. Neuer wäre zu einem kleineren Verein gegangen und dort vermutlich den Talentspähern entgangen. Denn ab einem gewissen Alter sind in der Regel nur noch Spieler im Fokus von Scouts und Auswahltrainern, die in der Jugend eines Profivereins kicken. Wer es schon mal dorthin geschafft hat, besitzt einen Bonus. Die Auslese beginnt früh – häufig viel zu früh.
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