Allen Skeptikern zum Trotz begann der Fußball unter den Gentlemen der britischen Gemeinde Fuß zu fassen, und Miller gelang es schließlich, für den 14. April 1895 ein Spiel zu organisieren. In Várzea do Carmo trafen zwei Mannschaften aus Brasilianern und Engländern aufeinander: die São Paulo Railway und die Companhia de Gás. Angeführt von Miller, der zwei Tore erzielte, besiegten die Eisenbahner die Gaswerke mit 4:2. Es waren nur wenige Zuschauer da: Freunde, leitende Angestellte und Arbeiter, dazu ein paar Esel, die in der Nähe grasten. Das war aber nebensächlich, denn es war das erste offizielle Fußballspiel in Brasilien und damit die Geburtsstunde des brasilianischen Nationalsports.
Zwar hatten schon vor Charlies Rückkehr nach Brasilien die Arbeiter englischer Firmen und britische Seeleute zwischen 1875 und 1890 in den Straßen und an den Stränden von Rio Fußball gespielt, einmal sogar vor der Residenz von Prinzessin Isabella, die das brasilianische Kaiserreich im Namen ihres Vaters Dom Pedro II. regierte. Und es ist richtig, dass der Jesuitenpater José Montero am São Luis College von Itu ein Spiel namens bate bolão einführte, das von Professoren und Schülern betrieben wurde, so wie sie es in Eton zu tun pflegten. Es ist außerdem wahr, dass Spiele wie ballon anglais an verschiedenen kirchlichen und nichtkirchlichen Instituten in São Paulo, Rio de Janeiro und Rio Grande do Sul ausgeübt wurden. Aber für die Brasilianer war Charles Miller O pai do futebol, der Vater des Fußballs, denn er organisierte nicht nur das erste historische Match, sondern rief auch die Fußballabteilung des São Paulo Athletic Club ins Leben. Außerdem hatte er entscheidenden Anteil an der Gründung der ersten brasilianischen Fußballvereinigung am 14. Dezember 1901, der Liga Paulista de Futebol , aus der ein Jahr später die erste Liga des Landes hervorging.
Am 3. Mai 1902 nahm die Liga mit fünf Mannschaften (São Paulo Athletic Club, Associação Atlética Mackenzie College, Sport Club Internacional, Sport Club Germânia und Club Athletico Paulistano) den Betrieb auf. SPAC (São Paulo Athletic Club) dominierte die ersten drei Spielzeiten. Die Spielkleidung des Vereins bestand aus hellblau und weiß gestreiften oder rein weißen Trikots, dazu schwarze Hosen und schwarze Stutzen. Mit zehn Toren in neun Spielen war Charles Miller Torschützenkönig der Saison 1902, im Finale erzielte er beide Treffer beim 2:1 gegen Paulistano. 1903 konnte SPAC den Titel mit einem erneuten Finalsieg gegen Paulistano verteidigen. Auch im Jahr darauf war SPAC siegreich, und Charlie war mit neun Treffern gemeinsam mit seinem Teamkollegen Boyes erneut erfolgreichster Torschütze.
Miller spielte bis 1910 beim SPAC. Da war der Fußball in Brasilien bereits nicht mehr nur das Spiel der urbanen weißen Elite, die den Sport als Symbol des modernen Europas ansah, sondern wurde auch von den unteren Klassen betrieben. Für sie war der Sport auch ein Mittel, um sich auszudrücken, was ihnen in anderen sozialen Umfeldern nicht möglich war.
Wie populär der Fußball schon damals in Brasilien war, zeigte auch die Tournee des Corinthian Football Club of London. Die Fußballer aus England trafen am 21. August 1910 mit der SS Amazon in Brasilien ein. Sie absolvierten drei Spiele gegen Fluminense und zwei weitere Teams, die sie alle deutlich gewannen. Dann fuhren sie nach São Paulo, um gegen Palmeiras, Paulistano und am 4. September gegen SPAC anzutreten. Es war eines der letzten Spiele des 36-jährigen Charles Miller. Die Engländer schlugen SPAC vernichtend mit 8:2. Auch in den anderen Partien hatten sie viele Tore erzielt. „Wir haben nichts anderes erwartet; jeder weiß, dass Corinthian auf technisch hohem Niveau spielt, wohingegen wir, fußballerisch gesehen, noch blutige Anfänger sind“, schrieb der Journalist Adriano Neiva da Motta e Silva, besser bekannt als De Vaney.
Der Besuch der englischen Mannschaft erregte großes Interesse in der Öffentlichkeit. In den Zeitungen wurde über ihre Ankunft berichtet, vorm Hotel Majestic warteten Menschenmengen auf die Fußballer, und das Velodrom, wo die Spiele stattfanden, war restlos ausverkauft. „Die Zuschauer zollten jeder gelungenen Aktion Beifall, und die Luft war von französischem Parfum erfüllt. Sie waren etwas Besonderes, diese Spiele von Corinthian“, schrieben die Zeitungen in São Paulo.
1910 hing Charles Miller die Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich ganz seiner Arbeit bei der Royal Mail Line, einer Reederei mit Sitz in England. Jahre später baute er sein eigenes Reiseunternehmen auf und fungierte gleichzeitig als englischer Vizekonsul. Er heiratete Antonieta Rudge, eine der renommiertesten Pianistinnen Brasiliens, die ihn 1920 für den Dichter Paulo Menotti Del Picchia verließ. Er hatte zwei Kinder aus der Ehe und gab seine Verbundenheit zum Fußball nie auf. So war er Schiedsrichter, arbeitete als Manager und blieb stets ein begeisterter Anhänger des Spiels.
Charles William Miller starb am 30. Juni 1953 im Alter von 79 Jahren. Er hatte erlebt, wie São Paulo zu einer Metropole heranwuchs und futebol , den er ein halbes Jahrhundert zuvor ins Land gebracht hatte, sich zu einer nationalen Leidenschaft entwickelte. Er war dabei, als Brasilien die Weltmeisterschaft 1950 ausrichtete, und durchlitt mit Millionen von Brasilianern eine der schmerzlichsten Stunden der brasilianischen Fußballgeschichte, als Brasilien im entscheidenden Spiel gegen Uruguay vor eigenem Publikum im Maracanã-Stadion den WM-Titel verspielte.
Charles Miller ist bis heute in Erinnerung geblieben. In der brasilianischen Fußballsprache bezeichnet der Begriff chaleira (eigentlich „Teekessel“, abgeleitet von „Charles“) den Trick, den Miller zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfand, bei dem der Ball hinter dem Standbein gestoßen wird, beim Schuss also die Beine überkreuzt werden. Genau ein Jahr nach seinem Tod wurde der Platz vor dem Estádio Municipal Paulo Machado de Carvalho (besser bekannt als „ Pacaembu“ , nach dem Viertel, in dem es sich befindet) nach ihm benannt. Heute ist das riesige Areal im Herzen von São Paulo, das in seiner Form an eine griechische Arena erinnert, auf der einen Seite von riesigen Wolkenkratzern und auf der anderen Seite vom Pacaembu begrenzt.
Das Pacaembu ist ein cremefarbener Jugendstilbau, der an einem Hang angelegt wurde. Das Stadion wurde am 27. April 1940 vom brasilianischen Präsidenten Gétulio Vargas, São Paulos Bürgermeister Prestes Maia und dem Architekten Ademar de Barros eingeweiht. Damals bot es 71.000 Zuschauern Platz. Heute hat es nach Umbauarbeiten im Jahr 2007 rund 40.000 Plätze. Die Heimspielstätte der Corinthians ist ein echtes Juwel und eines der beliebtesten Postkartenmotive der Stadt. Im Inneren, unter den vier Säulen am Haupteingang und der riesigen Uhr, befindet sich das Fußballmuseum mit 17 Räumen, das am 29. September 2008 eröffnet wurde. Ausgestellt werden Fotos, Videos, Aufnahmen berühmter Fußballer, Memorabilien, Souvenirs, seltene Artefakte und Statistiken. Die Ausstellung gleicht einer Reise durch den brasilianischen Fußball des 20. Jahrhunderts.
Hilário Franco Júnior, Professor für Geschichte des Mittelalters, hat ein viel beachtetes Buch geschrieben: A dança dos deuses: futebol, sociedade, cultura („Der Tanz der Götter: Fußball, Gesellschaft und Kultur“). Es beleuchtet die Geschichte des brasilianischen Fußballs aus vier Perspektiven:
„Am Anfang wurde der Fußball kritisiert, weil er für nutzlos erachtet wurde, aber es dauerte nicht lange, bis er sich vom Sport der Elite zum Spiel der Arbeiter entwickelte. In den dreißiger Jahren gab es dafür die ersten Anzeichen. Brasilien wurde sich einer Art gegenseitiger sozialer Befruchtung bewusst, wie sie von Intellektuellen wie Gilberto Freyre, Paulo Prado und Sérgio Buarque de Holanda beobachtet worden war. Mischlinge, Farbige und Weiße begannen, miteinander zu leben. Es gab keinen Grund mehr, sich zu schämen, und wenn Mischlinge Fußball spielen konnten, war das umso besser. Bei der WM 1938 war der Halbbrasilianer und Halbportugiese Leônidas da Silva bester Torschütze. Das war ein Weckruf für das Land. Ein Farbiger und ein Mischling spielten ebenfalls im Turnier, trotz der Proteste derer, die ihren Ausschluss gefordert hatten.
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