Lise Gast - Glück in kleinen Dosen

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Cornelia hat es in ihrem Leben nicht einfach. Immer wieder werden ihr Hindernisse in den Lebensweg gestellt, doch Cornelia gibt nicht auf und bleibt optimistisch und mutig. Durch dreissig Jahre aus Cornelias Leben wird der Leser geführt und erkennt wie die tapfere Protagonistin an ihren Aufgaben wächst … – Eine wunderschöne, inspirierende und mit Lebensklugheit erzählte Alltagsgeschichte über das Leben einer beherzten jungen Frau.-

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Lise Gast

Glück in kleinen Dosen

Roman · Erika Klopp Verlag

Saga

Glück in kleinen Dosen

German

© 1972 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509449

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com- a part of Egmont, www.egmont.com

Nele sprang vom Rad, verzweifelt, den Tränen nahe. Die Luft im hinteren Reifen hielt nicht; dreimal hatte sie nun nachgepumpt, und schon wieder fuhr sie auf der Felge. Dazu dieser fürchterliche Regen, und Gegenwind hatte man ja immer. Erste Erfahrung jedes Radfahrers: Der Wind kommt immer von vorn. Nie, nie würde sie auf diese Weise die andern einholen.

Das war an sich schon betrüblich genug. Nele hatte sich sehr auf die Fahrt mit Hille und ihren Brüdern gefreut, das ganze Jahr über.

„In den Herbstferien darf ich mit Hille Hollmann auf Fahrt!“ Allen mußte sie das verkünden. Und nun hatten sie sie so schmählich im Stich gelassen, waren zeitiger aufgebrochen. „Es sah so nach Regen aus, und da dachten sie, wir machen uns vorher davon“, erzählte Hilles Mutter, als Nele zur verabredeten Zeit in Marienbrunn ankam und dachte, nun ginge es los, zu fünft, zu siebent, vielleicht zu zehnt. „Lange sind sie noch nicht fort, du holst sie sicher noch ein, wenn du ein bißchen schnell fährst. Jaja, Richtung Altenburg.“

Wenn sie sie nicht vor Altenburg erwischte, bestand keinerlei Hoffnung, die Fahrt mitzumachen. Von dort aus wollte Hille nach Thüringen hinein, irgendwo von Jugendherberge zu Jugendherberge – ein genauer Plan lag nicht vor. Nele wischte sich die Tränen aus den Augen und beugte sich zur Luftpumpe hinunter, ließ sie dann aber stecken, plötzlich ganz mut- und energielos. Ihre Windjacke war dunkel vor Nässe, und die Zöpfe hingen ihr wie zwei schwere Schlangen über die Schultern. In den Halbschuhen quatschte das Wasser. Sie richtete sich nicht wieder auf, sondern legte den Unterarm auf die Lenkstange und die Stirn darauf. So stand sie, geduckt und verzweifelt, und weinte nun richtig, stoßweise, schluchzend.

Umkehren kam nicht in Frage. Es war so schwer gewesen, den Eltern die Erlaubnis für diese Fahrt abzuringen. „Du bist zu jung, erst fünfzehn, und gerade mit dieser Hille Hollmann! Sie ist ja nett, aber doch ziemlich unzuverlässig und recht selbstherrlich erzogen. Dazu diese Zeiten, in denen alles so unsicher ist –“

Nele hatte Hille leidenschaftlich verteidigt. Sie wäre nicht unzuverlässig, sie wäre solch ein guter Kamerad, und ihre Brüder würden ja auch mitfahren, und – und – und – bis sie endlich, endlich mitdurfte. Und nun waren die Hollmanns ohne sie losgefahren!

„Sie kann ja nachkommen, vielleicht darf sie wieder mal nicht. Ihre Eltern haben immer gräßliche Angst, sie sind völlig von vorgestern“, mochte sie gesagt haben. Beide hatten recht. Hille und die Eltern. Aber das nützte nichts, hier auf der Chaussee, bei Regen und Gegenwind und mit dem kaputten Fahrrad, allein ...

„Nele!“

„Ja?“

Sie fuhr auf, schnupfte und versuchte, so zu tun, als habe sie gar nicht geweint. Es konnte doch der Regen sein, der ihr vom Gesicht lief. Sie strich hastig mit dem Ärmel darüber. War vielleicht einer von Hilles Gruppe später losgefahren und konnte ihr noch den Anschluß an die andern ermöglichen, wenn er wußte, wohin sie sich wenden wollten? Der durfte nicht merken, daß sie geweint hatte.

Nein, keiner von ihnen. Es war Utz, Utz Schwertfeger, Mutters Mittagstischstudent. Nele fühlte, wie die Enttäuschung neu in ihr aufbrach; es wäre so schön gewesen, doch noch mitzukönnen. Gleichzeitig aber sikkerte ein Tröpfchen Trost in ihr Herz, sparsam zuerst, gleichsam abwartend. Utz war fünfundzwanzig, zehn Jahre älter als sie, und gehörte völlig zu den Erwachsenen. Die hatten, wie man immer wieder feststellen mußte, kein Verständnis für solche Nöte wie die ihren. Utz aber zeigte sich ihr gegenüber immer sehr freundlich, nie herablassend oder gar hohnvoll-verächtlich und spottlustig wie die Brüder, bei denen sie ja immer „nur“ ein Mädchen blieb, noch dazu ein jüngeres. Er brachte es fertig, sie so zu behandeln wie einen gleichberechtigten Menschen.

Vielleicht kam das daher, daß es ihm selbst sehr schlecht ging. Er studierte Chemie und arbeitete in seiner freien Zeit in einer Fabrik für ätherische Öle. Ein übertrieben süßlicher Geruch haftete an seinen Sachen, sie merkte immer sofort, wenn sie heimkam und sein Mantel im Flur hing, daß Utz da sein mußte. Ein- oder zweimal hatte sie ihn auch auf dem Schulweg getroffen. Sein Labor befand sich in der Liebigstraße, durch die ihr Schulweg führte. Einmal begleitete er sie bis ans Tor. Die Mädchen aus ihrer Klasse hatten runde Augen gemacht. Nele fühlte noch jetzt, wie gut ihr das getan hatte.

Utz trug eine alte Lederjacke, Knickerbocker und auf dem Kopf eine Mütze mit Schild, einen sogenannten Blaser, etwas, was bei Hille und ihren Leuten für unmöglich galt. Dort ging man bei Regen, Wind und Sonnenschein ohne Kopfbedeckung. Freilich wurde man dabei auch so naß wie sie jetzt. Aber man ertrug Nässe und Kälte mit Haltung und Stolz.

Das alles ging sekundenschnell durch ihren Kopf, während sie versuchte, Utz zuzulächeln. Er war abgestiegen und lehnte sein Rad gegen einen Chausseebaum.

„Luft raus? So ein Pech. Warte, ich seh’ mal nach, was man machen könnte.“

Nele trat zurück, und während Utz sich um ihr Rad mühte, konnte sie sich die Nase sehr gründlich schnauben.

„Das Ventil ist es nicht, ich hab’ schon nachgesehen“, schluckte sie. Er richtete sich wieder auf und sah sie an, nachdenklich.

„Hier können wir nicht flicken, in diesem Regen!“

„Wir“, sagte er. Dieses kleine Wort lockerte in Nele das, was sie gerade nach hinten geschoben und festgeklemmt hatte: all den Jammer und die Verzweiflung ihrer Situation. Ihr „Wir“ fuhr davon, nach Thüringen, hatte Altenburg sicher längst hinter sich und sie vergessen ...

„Was ist denn?“ fragte Utz, verwundert und mitleidig.

Durch seinen freundlichen Ton brach bei Nele der Staudamm. Sie schluchzte wild, und mit dem Schluchzen kam das zutage, was sie sonst wahrscheinlich niemandem gesagt hätte: die Abneigung ihrer Eltern gegen Hilles Gruppe, der verpaßte Anschluß, die Unmöglichkeit, die andern noch zu erreichen. Alles, alles kam heraus. Nele verstand selbst nicht, daß sie Utz dies alles erzählte; es war wohl ihr Ausgeschlossensein und die Hoffnungslosigkeit und seine freundliche, mitfühlende Art, die das bewirkte. Sogar ansehen konnte sie ihn jetzt, obwohl ihr die Tränen über das Gesicht flossen.

Sie war viel kleiner als er. Und während sie zu ihm aufsah und all diese schrecklichen Zusammenhänge daherstammelte, fiel ihr zum erstenmal die Farbe seiner Augen auf, dieses sanfte, schimmernde Blau. In diesen Augen saß ein zärtliches, ernstes und weiches Lächeln. Er legte eine Sekunde lang seine beiden Hände um ihre Schultern, zog sie ein wenig näher zu sich und sagte halblaut, ohne seinen Blick zu senken, in ihre Augen und, so deuchte es sie, mitten in ihr Herz hinein:

„Still. Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir.“

Nie, nie vergaß sie diese Worte. Zauberworte, niemals bisher gehört, ein Leben lang ersehnt, so schien es ihr. Nele hörte auf zu weinen, holte tief Luft, und wie mit einem Schlag war alles gut. Utz sah die Veränderung ihres Gesichts, es spiegelte ihr Empfinden wider wie ein überdeutlicher Film, klar und unmißverständlich. Er lachte. Und dann ließ er ihre Schultern los, ging zu seinem Fahrrad und nahm es mit der einen Hand während er mit der anderen Neles Rad ergriff.

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