Es war ein großer, rechteckiger, niedriger Raum, in den sie traten, Wohn- und Eßzimmer in einem. Nele fühlte sich sofort heimisch. So etwa hatte sie sich immer einen Wohnraum gewünscht, so und nicht so städtisch und eng wie zu Hause. Am besten gefiel ihr die Ecke. Sie war durch das Klavier, das mit der Schmalseite an der südlichen Fensterwand stand, abgeteilt. Die Rückseite des Klaviers hatte man mit grünem Rupfen bespannt und ein paar gerahmte Fotos daran gehängt, und überall, auf dem Klavier, auf einem Tischchen und der Fensterbank grünte und blühte es von Zimmerpflanzen, üppig und voll. Dann aber entdeckte sie gegenüber die Ofenecke. Nein, die war noch schöner! Nele vergaß alle Schüchternheit und sprang hinüber, hockte sich auf die helle Bank mit den bunten Kissen, die ringsum lief, und jauchzte halblaut: „Oh, ist das schön, ist das schön!“
Utz lachte zufrieden und mit Besitzerstolz. Freilich, der Ofen stellte den Glanzpunkt des Zimmers dar. Er war breit, behäbig und braun. In halber Höhe verjüngte er sich, so daß er dort einen Sims bildete, der sofort an Bratäpfel und deren süßen Duft denken ließ. Ach, und die entzückenden Kacheln!
Sie verdankten ihre Entstehung bestimmt keiner Fabrik, waren quadratisch, nach innen gewölbt und glänzend, und in der Mitte trugen sie einen knallblauen Klecks. Dieser Klecks machte es, er gab dem Ofen das Einmalige, das verschmitzt Lustige bei aller Würde, die ein richtiger Ofen ja ausströmen muß. Nele schmiegte die Wange an den Ofen, als wäre er ein geliebter und vertrauter Mensch, streichelte ihn und zog die Beine auf die Bank herauf, nachdem sie schnell aus den Schuhen geschlüpft war. So saß sie, die Hände um die angezogenen Knie geschlungen, und lehnte sich an die warmen Kacheln.
„Hier steh’ ich nie wieder auf!“
Ach, es tat so gut, so gut, zu sitzen! Das Zimmer war dämmerig, der wilde Wein wucherte allzu dick um die Fenster, und jetzt, Ende September, waren die Tage schon wieder kurz. Aber sie brauchten ja nicht mehr weiter zu fahren, sie waren angekommen, niemand verlangte mehr etwas von Nele. Hille und die andern mochten radeln, wohin sie wollten, ihr war es gleich. Utz stand neben ihr, wärmte sich die Hände am Ofen und lächelte auf sie herab. Es war so unbeschreiblich schön, nach Hause zu kommen und aus einem jungen und frischen Mund zu hören: Hier ist es schön, hier gefällt es mir ...
Es waren verzauberte Tage.
Wenn Nele früh in ihrem Eckzimmerchen erwachte, blieb sie immer noch eine kurze Weile still liegen, gleichsam halb im Traum, aber mit dem beseligenden Bewußtsein, daß es eben doch kein Traum, sondern traumschöne Wirklichkeit war. Die Luft war kalt, so kalt, daß man den Hauch sah, und es roch säuerlich nach eingelagertem Obst. Vor dem Fenster wackelte der Ast eines Apfelbaumes hin und her, meist heftig, denn hier oben blies es um diese Jahreszeit ganz schön. Das Dorf im Tal lag noch im Nebel. Nele rührte sich nicht.
Verzaubert, ja, so kam sie sich vor. Ob sie nun mit Utz’ Mutter über die herbstlich kurzgeschorenen Wiesen ging, dem Wald entgegen, der sich zu färben begann, oder mit Anne Pflaumen aus dem nassen Gras auflas – am Sonntag war also wirklich Kirmes, und dazu mußte es Pflaumenkuchen geben –, oder ob sie allein mit einem Buch in der schrägen Herbstsonne im Grasgarten lag und beim Lesen Äpfel schmauste – sie hatte sehr schnell gelernt, welche Bäume die schmackhaftesten trugen, und es gab so viel, für ein Stadtkind schier unglaublich viel –, immer kam sie sich vor wie in einem Traumland. So etwas gab es doch in Wirklichkeit gar nicht mehr, solch ein Pfarrhaus in einem richtigen Bauerndorf, solche blitzend klaren Morgen, solch hohen, kristallenen Himmel an den Mittagen. Und dazu Utz, diesen erwachsenen Mann, der sich um sie bemühte, als wäre sie auch schon erwachsen, der mit ihr Radtouren unternahm, bei denen man in benachbarten Pfarrhäusern guten Tag sagte und mit Kaffee und dickem Kuchen gelabt wurde, bei denen man kilometerweit die Räder schob und dann, losgelöst wie die Vögel, bergab sauste – ach ja, es war ein märchenhaftes Dasein. Und alle waren nett zu Nele, alle, nicht nur Utz – der natürlich am allernettesten.
Aber auch Utz’ Vater gefiel ihr. Er war uralt, so meinte sie, weißhaarig mit Brille und Bart, einem richtigen kurzen Vollbart, und bei Tisch sprach er mit lustigem Augenzwinkern lateinisch, weil er gehört hatte, daß Nele mit einem ihrer Brüder ein Weilchen Latein gebüffelt hatte. Nele gab sich die größte Mühe, alles zu verstehen, sie versuchte, lateinisch zu antworten, notfalls sagte Utz ihr vor. „Vater hört nicht mehr ganz gut“, erklärte er einmal nebenbei. Seitdem hatte Nele nicht mehr solches Lampenfieber, wenn Herr Pastor Schwertfeger sie ansprach. Und es machte Spaß, richtig zu übersetzen. Das meiste verstand sie übrigens auch ohne Utz’ Hilfe.
Im Garten gab es einen Strauch mit sogenannten Pumpernüssen. Nele kannte diese kirschgroßen, blankbraunen Früchte noch nicht. Sie waren nicht eßbar, aber es machte ihr ein kindliches Vergnügen, sie zu sammeln.
„Wir haben das früher auch getan“, erzählte Anne, die viel und gern im Garten arbeitete. „Einmal hab’ ich es auf tausend gebracht, eher hörte ich nicht auf.“
Nele beschloß, es Anne nachzutun.
Während sie unter dem Strauch hockte und auflas, hörte sie Utz’ Schritt auf der Treppe. Sie blickte nicht hin – aber immer, wenn sie ihn nahe wußte, mußte sie an jene Worte denken, die er gesprochen hatte, als sie allein und verloren auf der regennassen Straße stand, ohne zu wissen, was nun werden sollte: „Sei still. Hab’ keine Angst. Ich bin ja bei dir.“ Niemals, so glaubte sie, habe sie so zauberhafte Worte gehört.
Vielleicht dachte Utz überhaupt nicht mehr daran, daß er sie ausgesprochen hatte, sie aber hörte sie immer wieder, sobald er in ihrer Nähe war. Konnte noch irgend etwas mißlingen, schief ausgehen, einen bedrohen oder bedrücken, wenn man an diese Worte dachte? Nichts im ganzen Leben.
„Nele? Ach, dort bist du. Hör, wollen wir in die Kirche, den Altar schmücken? Am Sonntag ist Erntedankfest.“
Nele krabbelte unter ihrem Strauch hervor, putzte sich die Knie ab und stellte das Körbchen mit Pumpernüssen auf das steinerne Treppengeländer.
„Schön. Hier holt es keiner weg“, sagte Utz zufrieden. „Nun komm, im Schuppen liegt schon einiges, wir laden es auf den kleinen Leiterwagen und fahren es hinüber.“
Der wilde Wein an der Hauswand fing an, sich zu färben. An manchen Stellen war er schon blutrot.
„Wenn im Purpurschein
blinkt der wilde Wein“
summte Utz vor sich hin. Nele kannte das Lied, es stand in Vaters Kommersbuch.
„Wenn die Haselmaus
in ihr Winterhaus
schleppt die allerletzte Buchennuß“
war ihre Lieblingsstrophe. Halblaut fiel sie ein, und nun sang auch Utz richtig. Er hatte einen weichen, gleichsam zärtlichen Bariton.
„Sollt’ ich sterben eh’r
weine nicht so sehr,
weil es schad’ um deine Äuglein wär ...“
„Komm, nimm du von den Karotten dort, nein, nur die allerschönsten, die roten“, sagte er, während er mit beiden Händen einen Kürbis hochhob und hinaustrug zum Wägelchen. „Laß das Grünzeug dran, das gibt einen schönen Kontrast.“
Der Kürbis sah aus wie eine Sonne, strahlend goldgelb geflammt. Nele packte eifrig Karotten und Kohlrabi dazu, und dann lief sie in den Apfelkeller und holte von den schönen gestreiften Gravensteinern, soviel sie mit beiden Armen fortbrachte. Utz kam ihr nach und wählte aus, gelbe und hellere, nur die grauen Reinetten ließ er liegen.
„Die halten mehr als sie versprechen“, sagte er mit der ernsten Sachkenntnis des Pastorensohnes, der hier Jahr um Jahr geerntet hat, eingewintert, sortiert und auch gefuttert. „Und Birnen gehören dazu, die dicken, goldfarbenen. Ja, nimm auch welche von dort, von der Guten Luise. Wart, wir bringen nicht alles auf einmal fort, wir kommen lieber noch einmal wieder.“
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