„Manchmal ja. Nicht immer. Der Fritz und ich – der Fritz ist der Müllerssohn von hier –, wir hielten zusammen. Man sagt ja auch: ‚Pastors Kinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie‘. Ja, es muß schon etwas Wahres dran sein. Also mit dem Fritz hatte ich Nibelungentreue geschworen, und da mußte jeder einmal befehlen dürfen. Übrigens beschränkte sich unsere Freundschaft nicht auf das Kriegerische. Wir hatten auch friedliche gemeinsame Interessen. Wir angelten im Mühlgraben und sind dabei unzählige Male ins Wasser gefallen. Mühlgräben sind tückisch, weil sie nicht sanfte, natürliche Ufer haben wie ein Bach oder ein Fluß, sondern künstlich angelegt sind. Die Ränder gehen steil hinunter, und das Wasser reißt sehr. Aber wir konnten seit eh und je schwimmen. Ich besinne mich überhaupt nicht, daß oder wie wir es gelernt haben, wir konnten es eben. Und wir fuhren Boot, machten Kopfsprung vom Mühlenwehr hinunter, tauchten und tobten im Wasser herum. Und dann ritten wir auf den Mühlenpferden.
Es waren zwei Falben, und sie hießen Hans und Liese, wie die meisten Pferde auf dem Land. Für uns aber waren sie die schönsten und kostbarsten Rosse. Wir nannten sie Schimming und Grani wie die Pferde aus der Nibelungen- und Amelungensage. Schimming gehörte dem starken Schmiedsohn Wittich, und Grani war Siegfrieds Pferd. Ich liebte die deutschen Sagen sehr und kannte sie ganz genau. Indianer haben wir fast nie gespielt, immer nur Dinge aus den Sagen. Mir gehörte der Schimming. Vielleicht sind sie noch da, so lange ist es schließlich nicht her, wenn es einem auch vorkommt, als wäre es eine andere Welt.“
„Wir fragen mal!“ drängte Nele mit weit aufgerissenen Augen. „Und mit denen seid ihr dann geritten?“
„Ja, wenn sie nicht gerade zu tun hatten. Sie zogen die Wagen mit den Mehlsäcken und dem gequetschten Hafer, oder sie arbeiteten auf dem Feld. Im Herbst aber, wenn draußen nicht mehr viel zu tun war, dann holten wir sie uns und ritten über die Felder.“
„Hattet ihr denn Sättel?“
„Nein. Es ging auch ohne. Mühlenpferde sind breit und bequem, weißt du.“
Sie hatten die Mühle erreicht. Utz hielt Nele die Tür auf und ließ sie vor sich eintreten, eine Höflichkeit, die Nele von den Brüdern nicht kannte. Sie wurde ein bißchen rot und genierte sich, aber es tat ihr auch wohl. Und dann begrüßte Utz seinen Jugendfreund, dem jetzt die Mühle gehörte. Sie schüttelten sich die Hände und lachten sich an, und Nele und Utz mußten ins Zimmer hereinkommen und sich erst einmal setzen. Später führte Fritz seine Gäste durch sein Reich. Es roch nach Mehl und Sauberkeit und frischem Brot, und auf allem lag ein hauchdünner weißer Puder, auf Säcken und Kästen, Dielen und Geländern. Utz bestand darauf, daß Nele auch das Rad sehen müsse, und Fritz war gutmütig dazu bereit, es laufen zu lassen. Nele stand im Dämmern des Wasserstaubes, halb betäubt vom Rauschen und Donnern des Baches, und staunte hinauf zu dem urtümlich riesenhaften Ding, das sich da drehte, angetrieben von der Gewalt des Wassers.
„Und die Pferde, sind die auch noch da?“ fragte Utz schließlich.
„Natürlich. Von denen trenne ich mich doch nicht!“
Sie traten in den Stall. Auch hier herrschte peinlichste Ordnung und Sauberkeit, wie das in Mühlen so üblich ist. In ihren Boxen, knietief in frischem Stroh, standen die beiden Falben, wirklich noch dieselben, die Utz als Junge geritten hatte, und wandten ihre mächtigen Köpfe den Besuchern zu. Utz trat in den Stand und liebkoste ihre Stirnen und Nasen, und Nele schlüpfte zu ihm, ein wenig bang, aber wie magisch angezogen. Weich wie Samt fühlte sich die Pferdelippe an, wenn sie tastend den Zucker, den Fritz ihnen gab, von der flachen Hand herunternahm.
„Oh, und wie sie riechen! Wie sie riechen!“ stammelte Nele hingerissen. „Pferde riechen so wunderbar – so, wie kein anderes Tier –“
„Dürfen wir mal ein Stück reiten?“ fragte Utz. Fritz nickte gönnerhaft, als verschenke er ein Königreich, und Nele fand das ganz in Ordnung. Das heißt, für sie wäre ein Königreich höchst unwichtig gewesen neben einem Pferd. Mit klopfendem Herzen sah sie zu, wie die beiden Männer die Pferde aufzäumten. Fritz suchte ein wenig an der Wand, wo allerlei Zaumzeug an hölzernen Knäufen hing.
„Hier, nehmt das als Reitzügel, ich habe im Augenblick keinen richtigen da. Mit wem sollte ich wohl reiten, seit du in der Stadt bist.“ Er lachte ein wenig. Nele fühlte ihr Herz zittern. Reiten dürfen! Aber plötzlich fiel ihr ein: Sie trug ja ein Kleid! Was tun?
„Du mußt wohl etwas drüberziehen. Wir holten uns immer die Hosen der Gehilfen“, sagte Utz im selben Augenblick, „in kurzen Buxen ritten wir nicht gern.“
Fritz kam ihnen schon entgegen, zwei Paar helle, verblichene Leinenhosen über dem Arm.
„Da! Jetzt brauch’ ich sie ja nicht mehr heimlich wegzuholen.“ Er warf jedem von ihnen ein Paar zu. Utz ging in die eine Mehlkammer und schob Nele in die zweite.
„Zieh sie einfach übers Kleid und stopf alles hinein. Wie es aussieht, ist egal!“ riet er.
Nele gehorchte. Es ging. Sie kam wieder heraus, Fritz hatte soeben die beiden Pferde in den Hof geführt. Er half ihr auf das eine, während Utz im Stütz auf das andere sprang und das eine Bein elegant hinüberschwang.
„So, und nun schön im Schritt anreiten. Bis nachher!“ Er winkte dem Freund zu. Der stand und sah ihnen nach, während die Pferde durch den Hof trotteten, nebeneinander, ein wenig verschlafen und sehr behäbig. Neles Herz dehnte sich. Sie ritt, oh, herrlich, herrlich! Ein Entzücken ohnegleichen durchflutete sie.
Es geschah ihr zum erstenmal im Leben, daß sie auf einem Pferderücken saß, daß sie die lebendige Bewegung unter sich fühlte.
„Sitz gerade, ja, so! Und mach die Beine lang!“ sagte Utz freundlich, „ja, siehst du, du bist wie für den Sattel geboren! Die Zügel ein bißchen kürzer – na, geht die Liese nicht sofort anders? Wenn wir hier wohnten, ritten wir jeden Tag, du und ich, meinst du nicht?“
„O Utz, jeden! Jeden einzigen Tag! Sag, ist es schwer, zu traben? Ich möchte so gern! Darf man das am ersten Tag?“
„Natürlich. Wir müssen nur warten, bis der Untergrund weich ist, dann traben wir an. Dort auf dem grasigen Weg. Ich reite voran, die Liese kommt immer hinterher, du brauchst gar nicht bange zu sein.“
Nele war nicht bange. Es war ein Glück ohnegleichen, ein Rausch, sanft und gleichzeitig gewaltig, ein Brausen im Kopf, ein Aufwärtsschwingen des Herzens. Sie ritten. Sie trabten. Die breiten Pferderücken stießen kaum, man saß auf ihnen, als habe man immer dahin gehört. Nele war froh, daß sie hinter Utz ritt, auf diese Weise konnte er nicht sehen, wenn sie immer wieder einmal seitlich ein bißchen rutschte und sich zurechtrücken mußte.
„Greif mit einer Hand in die Mähne, wenn du in Wohnungsnot kommst!“ rief er nach hinten. „Alle Anfänger halten sich an der Mähne, ja nicht am Zügel. Damit tust du dem Pferd nur weh. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß du Angst hast. Wollen wir ein kleines Stück galoppieren? Du wirst sehen, Galopp ist die leichteste Gangart, viel leichter als Trab. Siehst du – na wunderbar!“
Der Himmel war seidig und hell, ein wenig blaß, so, wie er in dieser Jahreszeit oft ist, die Luft leicht, leicht zu atmen. Nele fühlte, wie das Blut in der Kühle des Herbsttages in ihr zu kreisen begann, schneller, lebhaft, warm. Es war ein Gefühl ohnegleichen. Noch nie, so glaubte sie, hatte sie derart bewußt und voller Genuß gelebt wie in dieser Stunde auf dem Pferderücken, neben Utz, in der lieblich welligen und herbstlich bunten, ein klein wenig wehmütigen Landschaft seiner Heimat ...
„Nele?“
„Ja?“
„Du bist so still. Bist du müde? Oder fahre ich dir zu schnell?“
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