„Nein, nein.“
Nun waren sie schon fast in Probstheida. Seit einer Stunde kämpfte sie darum, etwas zu sagen – oh, gleich, gleich würde das Märchen zu Ende und sie wieder daheim sein, die kleine dumme Schwester großer Brüder. Sie würden sie verspotten und über sie lachen, falls sie überhaupt zuhörten, und wenn sie eines Tages merkten, daß sie und Utz sich duzten – ach, spätere Sorgen! Jetzt, jetzt mußte sie es sagen, solange sie noch mit Utz allein war.
Sie setzte an.
„Kommst du wieder mal zu uns zu Mittag?“
Utz antwortete nicht gleich. Er fuhr links neben ihr, sah nachdenklich vor sich hin und dann zu ihr hinüber.
„Nele, ich bin jeden Freitagabend in der Motette. Wenn du mir mal was sagen willst, ich meine – jeden Freitag. Du mußt rechts am Haupteingang warten, und wenn du mich dort nicht erwischst, hinterher beim alten Herrn Johann Sebastian. Dort kann man einander unmöglich verfehlen. Wirst du kommen?“
„Ja. Jetzt sind bald wieder die schönsten Motetten, jetzt, wenn es Winter wird –“
Nele wagte es, zu ihm hinzusehen, und lächelte ihn dann eine Sekunde lang an, leuchtend, glücklich, so, daß er es nie vergaß. Sie hatten einander verstanden. In die Motette konnte sie jederzeit gehen, das fiel zu Hause nicht auf. Unwillkürlich dachte sie an die Adventswochen, die nun in absehbarer Zeit kamen. Da verpaßte man keine einzige Motette. Sie sah im Geist die kleinen Sänger auf der Empore, dick in Mäntel verpackt, wie ihnen ein zarter, hellgrauer Atemhauch vor dem Mund stand, während sie sangen, rein wie Engel, die Augen auf den Primaner geheftet, der dirigierte, während die Kirche voll war von Andächtigen, alle so still, daß man wahrhaftig die berühmte Stecknadel würde fallen hören. „Er ist gewaltig und stark ...“ und „Ein hohes Haus im Himmel steht, zu dem ein Weg von Golde geht ...“, zart wie Filigran auf dunklem Goldgrund. Und hinterher jubelte die Orgel, gespielt vom größten Bach-Interpreten des Jahrhunderts.
Sie waren in Leipzig angekommen. Straßenbahnen rasselten, und dort stand die Pappel, von der aus man die Kilometer zählte, wenn man einander hier traf und zusammen losfuhr. Links, schon ein wenig im Dämmer des Herbstabends, ahnte man grau und wuchtig das Völkerschlachtdenkmal.
„Siehst du, da sind wir wieder“, sagte Utz. Nele sah zu ihm hin.
„Utz“, setzte sie an, eilig, als fürchte sie, doch noch zu versäumen, was zu sagen ihr auf dem Herzen brannte. „Utz, ich dank’ dir auch schön, daß du mich mitgenommen hast. Es war – es war – ich hab’ mich so toll gefreut, du!“ Es klang ungeschickt und verlegen, aber er verstand sie genau. Er nickte ihr zu und schwang sich vom Rad.
„Komm“, sagte er halblaut, aber entschlossen – auch er hatte lange mit dieser Frage gerungen, „komm, wir gehen die letzte Strecke zu Fuß, hier, an der Bahn entlang. Es ist etwas weiter, aber deine Eltern wissen ja nicht, wann wir ankommen. Wollen wir noch eine halbe Stunde zugeben?“
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.