„Fußball ist kein Fehlervermeidungsspiel.“
Jürgen Klopp über ein Gegentor durch einen individuellen Fehler
Dementsprechend ist es auch kein taktisches Spiel, die Kontrolle dem Gegner zu überlassen. Wenn man selbst nicht in der Lage ist, Kontrolle auszuüben, dann kann das zwar eine strategische Entscheidung sein, die Sinn ergibt. Aber sie wird immer nur darauf basieren, dass man nicht in der Lage ist, mehr Kontrolle auszuüben – also taktisch hochwertiger zu spielen. Klopps Philosophie ist die, so viel wie möglich richtig zu machen – und nicht, so wenig wie möglich falsch zu machen. Bei seinen Iden geht es um Aktivität. Das Pressing ist die Umkehr der Logik, dass die verteidigende Mannschaft reagiert. Bei einem guten Pressing agiert die Mannschaft ohne Ball, sie bestimmt das Spiel. Das Gegenpressing ermöglicht ein aktiveres, risikoreicheres Spiel mit dem Ball und entwertet die reaktiven Möglichkeiten des gegnerischen Konters.
Exkurs
Bedeutung der Taktik
Für dieses Buch ist es wichtig, frühzeitig die Bedeutung des Begriffes „Taktik“ zu erklären. Im fußballerischen Volksmund nämlich wird die allgemeine Marschroute als Taktik bezeichnet; die strategische Vorgabe also. Die Strategie ist aber eben das übergeordnete Leitmotiv, welches man verfolgt. Die Strategie wird in diesem Buch dementsprechend nicht als Taktik bezeichnet. Die Taktik bezeichnet hier die konkrete Umsetzung der Strategie: Wann bewege ich mich wohin, welchen Pass spiele ich in welcher Situation, wann gehe ich ins Dribbling, über welche Räume versuche ich anzugreifen und so weiter. Auch die taktischen Hintergründe für Aufstellungen werden als Taktik bezeichnet, ebenso wie die Art und Weise, in der Mannschaften sich auf dem Feld organisieren.
Wichtig ist zudem, dass nicht nur geplante Dinge taktisch betrachtet werden. Die Feststellung eines taktischen Sachverhaltes bedeutet nicht, dass dies eine konkrete Vorgabe oder Planung des Trainers war. Wenn sich aus den Wechselwirkungen zwischen zwei Teams organisch ein bestimmtes Muster ergibt, so ist dieses ebenfalls taktisch zu betrachten. Weil Fußball zu einem großen Teil intuitiv und gefühlsmäßig gespielt wird, ist es auch die besondere Herausforderung an den Trainer, systematische Dinge so zu planen, dass sie sich mit den intuitiven Voraussetzungen und den Zufällen vertragen, die so im Laufe von 90 Minuten auf dem Feld passieren.
Wenn die taktische Analyse an der ein oder anderen Stelle ungewöhnlich komplex wirkt, liegt das also an der Komplexität des Spiels, nicht an einer übertrieben verwissenschaftlichten Herangehensweise der handelnden Personen. Ebenfalls negiert die taktische Erklärung keine anderen Erklärungen. Wenn eine Mannschaft schlecht spielt, kann das beispielsweise durchaus psychologische Gründe haben. Bevor diese in Tore umgemünzt werden, müssen sie sich jedoch erst einmal auf die Verhaltensweise auf dem Feld auswirken – und sind dementsprechend taktisch zu beobachten. Insofern kann jede Art von Begründung im weiteren Sinne taktisch „übersetzt“ werden, das ist kein Widerspruch.
Klopp, Pressing und Gegenpressing
Der elementarste Bestandteil von Klopps Fußball ist die aktive Arbeit gegen den Ball. Er hat sie nicht erfunden, ist aber einer der größten Pioniere, hat sie perfektioniert wie vielleicht kein anderer Trainer und sie der großen, weiten Fußballwelt erklärt und vorgeführt. Das Pressing und das Gegenpressing sind die Kernstücke, die es zu verstehen und zu diskutieren gilt, wenn man Klopp als Trainer verstehen will. „Pressing“ bezeichnet das organisierte Attackieren des gegnerischen Aufbauspiels. Im Klartext: In der Defensivformation zieht man sich nicht nur zurück und wartet vor dem eigenen Strafraum auf den Gegner, sondern attackiert ab einer bestimmten Höhe auf dem Spielfeld den Ballführenden. Man betreibt also Balleroberung, statt sich auf Torverteidigung zu beschränken. Optimalerweise „presst“ man mit mehreren Spielern, die sich stabil im Raum organisieren, um so viele Angriffsmöglichkeiten wie möglich abzudecken.
Abb. 1: Pressing nach außen im 4-2-3-1, Überzahl in Ballnähe durch kollektives Verschieben
„Gegenpressing“ bezeichnet die Balleroberung direkt nach einem Ballverlust. Der wichtigste Unterschied ist der, dass man sich nun nicht in seiner Defensivformation befindet. Die Spieler stehen weiter auseinander, da sie gerade noch im Angriff waren. Die Gegenspieler stehen dafür enger beisammen. Letzteres kann man nutzen, um sofort Druck aufzubauen. Damit wird im besten Falle verhindert, dass der Gegner einen Konter führen kann. Pressing wird also gegen den Angriff durchgeführt und Gegen pressing gegen den Gegen angriff. In anderen Sprachen werden teilweise auch Begriffe genutzt, die eher in Richtung „Konterpressing“ gehen.
Abb. 2: Gegenpressing nach einem Ballverlust, aus einer geordneten Spielaufbau-Staffelung wird von allen Seiten sofort Druck gemacht
„Der günstigste Moment, den Ball zu erobern, ist direkt nach eigenem Ballverlust. Der Gegner muss sich erst orientieren, schauen, wo er den Ball hinspielen könnte. Und zack, ist man schon da.“
Klopp 2012 an der Sporthochschule Köln über Gegenpressing
Der große Vorteil von Pressing und Gegenpressing ist, dass man weniger „klassisch“ verteidigen muss. Früher wurden die Abwehrspieler für Gegentore kritisiert. Bei Klopp werden eher die Mittelfeldspieler dafür kritisiert, dass die Abwehrspieler überhaupt eingreifen mussten. Das Spiel wird im Grunde nicht mehr qualitativ gewonnen, sondern quantitativ: also nicht dadurch, dass ich meinen Strafraum besser verteidige, sondern dadurch, dass ich meinen Strafraum seltener verteidige. Bei dieser Art Fußball löst sich das Spielergebnis auch etwas von der individuellen Ebene der Spieler. Deshalb konnte Klopp mit unterlegenem Personal überlegen sein. Seine Spieler konnten sich nicht unbedingt besser durchsetzen als ihre Gegenspieler, aber wenn sie sich durchsetzten, kamen sie öfter in die Situationen, in denen das gefährlich wurde.
Dass man den Gegner früh unter Druck setzt, ist dabei eigentlich ein sehr altes Element des Fußballs. Zumindest in bestimmten Spielphasen wurde das immer wieder praktiziert. Es galt allerdings als riskant, was es auch ist: Wenn ich nach vorne rücke und den Ballführenden attackiere, aber ausgespielt werde, hinterlasse ich Lücken. Entscheidend ist deshalb, wie das Pressing organisiert ist. Welche Spieler verteidigen wann welchen Raum? Wie groß wähle ich die Abstände zwischen den Spielern und den Mannschaftsteilen? Ab welcher Höhe attackiere ich den Gegner? Wohin will ich den Gegner leiten, wie laufe ich ihn an? Woran orientiere ich mich in meiner Positionierung auf dem Feld – an der Position, meinen Mitspielern, den Gegenspielern, dem Raum, dem Ball? Wie stark verschiebe ich zum Ball?
Aus heutiger Sicht ist der strategische Vorsprung Klopps auf die restliche Fußballwelt geschrumpft. In England kann er noch auftrumpfen, doch in Deutschland gehört aktives Verteidigen mittlerweile zum guten Ton. Was Klopp aber immer noch von vielen Trainern unterscheidet, ist sein taktischer Perfektionismus bei der Umsetzung seiner Strategien. Den meisten Trainern, die mittlerweile aggressiv pressen und umschalten lassen, geht diese Feinarbeit und die Balance in der Vermittlung ihrer Ideen ab. Alexander Zorniger zum Beispiel scheiterte in der Bundesliga mit einem Vollgasfußball, der zwar hochintensiv war, aber nicht stabil genug organisiert.
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