„Mein Vater hat ein Kind bekommen“, platzte sie heraus.
Die beiden großen Mädchen lachten.
„Dein Vater?“ sagte Ulrike. „Du machst wohl Spaß! Wahrscheinlich war es wohl deine Mutter?“
„Meine Mutter ist tot“, erklärte Gerti mit unerwarteter Bitterkeit.
„Das wissen wir alle“, sagte Katja rasch und warf Ulrike einen mahnenden Blick zu. „Ulrike meinte …deine neue Mutter.“
„Was ist es denn?“ fragte Ulrike. „Junge oder Mädchen?“
„Ein Junge …“
„Ist er nett?“ fragte Katja.
Gerti Moll zuckte die schmalen Schultern. „Na, eben ein Baby.“
„Immerhin“, sagte Ulrike, „soviel ich weiß, gibt es da auch Unterschiede …“
„So genau habe ich es mir nicht angeschaut“, behauptete Gerti.
Katja wurde stutzig. „Nun sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Bist du eifersüchtig auf dein Brüderchen? Das wäre wirklich albern.“
„Ach, laßt mich in Ruhe!“ sagte Gerti patzig.
Das waren ganz neue Töne. Katja und Ulrike wechselten einen Blick. Was war bloß in die Kleine gefahren? Von dieser Seite her kannten sie sie ja gar nicht. Sonst war doch jedes Wort der bewunderten Katja für sie Gesetz gewesen.
Ulrike hob ihre hellen Augenbrauen. „Jetzt ist sie völlig überkandidelt;“ sagte sie geringschätzig.
Katja war nicht so schnell bereit, die Kleine zu verurteilen. „Verträgst du dich etwa mit deiner neuen Mutter nicht, Gerti?“ fragte sie. „Ist sie nicht gut zu dir?“
„Quatsch“, widersprach Ulrike. „Sie ist doch eine ganz fabelhafte Frau. Erinnerst du dich nicht, Katja? Sie war mal hier …mit Gertis Vater.“
„Sie meint es bestimmt nur gut mit dir“, sagte Katja, „aber wenn du gegen sie bockst, kannst du nicht erwarten …“
„Ich erwarte gar nichts! Ich brauche keine neue Mutter, und ich pfeife auch auf euch! Ihr redet bloß und redet und steckt eure Nasen in Dinge, die euch gar nichts angehen!“
„Na, entschuldige schon“, sagte Katja, jetzt doch verletzt, und wandte sich wieder ihrem Koffer zu.
„Mach dir nichts draus, Katja“, erklärte Ulrike, „du weißt ja: Eine spinnt immer!“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Meine Güte, nur sieben Minuten bis zum Läuten! Wir müssen uns beeilen, wenn wir bis dahin mit Auspacken fertig sein wollen!“
„Wo steckt Gaby eigentlich?“ fragte Katja und hängte ihr Sonntagskleid fein säuberlich über den Bügel. „Ist sie etwa noch nicht eingetroffen?“
„Doch“, sagte Ulrike, die sich darangemacht hatte, ihre Pullover in den Schrank zu stapeln. „Mit mir zusammen. Aber sie ist gleich zur Reitschule hinübergelaufen.“
„Das sieht ihr ähnlich. Bestimmt kommt sie zu spät.“
Diesmal hatte die kluge Katja sich geirrt. Gaby Reitmann stürmte genau fünfzehn Sekunden vor dem Läuten in das gemeinsame Zimmer und setzte ihren Koffer mit so viel Schwung ab, daß er ein gutes Stück über den blankgewachsten Boden rutschte.
„Da bist du ja endlich!“ rief Katja.
Gaby schlug die Hacken zusammen und legte die Hand grüßend an ihr krauses braunes Haar. „Melde mich gehorsamst zur Stelle, Herr Oberfeldwebel!“ schnarrte sie.
„Laß die Faxen!“ sagte Katja. „Du hättest dich nicht so lange herumtreiben sollen. Jetzt bleibt dir nicht einmal Zeit zum Auspacken.“
In diesem Augenblick begann die Glocke vom Burgturm ihr helles Gebimmel.
„Mach’ ich später“, sagte Gaby unbekümmert. „Menschenskinder, ihr wißt gar nicht, was ihr versäumt habt! Die Reithalle ist eine Wucht! Und erst einmal die Pferde!“ Sie begann an den Fingern aufzuzählen. „Ein Apfelschimmel, ein Brauner, ein Fuchs …“
Ulrike und Katja strebten schon der Türe zu und wollten eilig das Zimmer verlassen, um rechtzeitig drüben im Speisesaal des Hauptgebäudes zu sein.
„Lauft doch nicht weg!“ schrie Gaby. „Ich muß euch doch erzählen …“
„Merkst du nicht, daß niemand sich für Pferde interessiert?“ entgegnete Ulrike.
„Wie kannst du das sagen! Die halbe Schule war in den Ställen!“
„Na, wenn schon“, rief Ulrike, die inzwischen die Treppe erreicht hatte, über die Schulter zurück. „Mich jedenfalls lassen diese Tiere kalt!“
„Das verstehe ein anderer“, sagte Gaby, schwang sich aufs Treppengeländer und sauste wie der Blitz hinunter – was eigentlich streng verboten war. Aber heute, am ersten Tag, nahm es niemand so genau.
Auch bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit war die neueröffnete Reitschule Thema Nummer eins. Nicht nur die Pferde waren es, die das Interesse der Mädchen erweckten, sondern auch der junge Reitlehrer und Stallmeister, ein Herr namens Georg Philipp.
Eine Schülerin hatte einen Spitznamen für ihn erfunden: „Prinz Philipp“. Er war so treffend, daß ihn sofort jeder übernahm. Der schlaksige, blonde junge Mann erinnerte tatsächlich entfernt an den Prinzgemahl der Königin von England. Außerdem war der Reitsport in den Augen der Mädchen etwas unerhört Elegantes und Außergewöhnliches.
„Prinz Philipp sagt“, berichtete Gaby, die wie immer das große Wort führte, mit vollem Munde, „alle dürfen Reitstunden nehmen, die genügend Zeit dazu haben. Sie kosten nichts extra. Die Reitstunden sind genau dasselbe, als wenn man an irgendeinem anderen Club oder einer Arbeitsgemeinschaft teilnimmt …“ Sie stopfte einen neuen Bissen Brot in den Mund. „Ich habe ihn natürlich gefragt, warum sich das Ganze dann nicht Reitclub nennt, klingt doch viel schicker …und er sagte, das wäre geplant, sobald er erstmal ein paar von uns zu richtigen Reiterinnen ausgebildet hätte.“
„Machst du mit?“ fragte Katja Kramer.
„Na klar!“ erklärte Gaby mit Energie. „Ich wäre ja verrückt, wenn ich mir die Gelegenheit entgehen ließe!“
„Braucht man keine Sondererlaubnis vom Eisenbart?“ fragte Irene Sievers.
„I wo! Jeder, der nicht gerade Extrastunden aufgebrummt bekommen hat, kann mitmachen.“
„Unter einer Bedingung“, ließ sich Fräulein Faust, die Hausvorsteherin und Sportlehrerin, vom oberen Ende des langen Tisches her vernehmen.
Alle Gesichter wandten sich erwartungsvoll „Gretchen“ zu, wie die Schülerinnen sie nannten. Gaby vergaß vor lauter Spannung sogar ihren Mund zu schließen. Sie zuckte zusammen, als Ulrike, die ihr gegenübersaß, sie unter dem Tisch anstieß. Es dauerte einige Zeit, bis sie merkte, was die andere wollte, und den Mund endlich wieder zuklappte.
„Wer Reitstunden nimmt, muß sich auch verpflichten, die Stallarbeiten zu erledigen“, erklärte Fräulein Faust in die plötzlich entstandene Stille hinein. „Das heißt: morgens eine halbe Stunde früher aufstehen, ausmisten, füttern und tränken, die Pferde striegeln, Geschirr putzen …“
„Wieso Geschirr?“ fragte eines der jüngeren Mädchen. „Ich dachte, Pferde tränken aus Eimern und fräßen aus Trögen!“
Alle lachten, und die Kleine selber lachte mit – es wurde nicht klar, ob ihre Bemerkung wirklich dumm gewesen war oder nur ein Witz sein sollte.
„Unter Pferdegeschirr“, erklärte Fräulein Faust, „versteht man Sattel, Zaumzeug, Bügel und Zügel …Das alles muß immer in genauso gutem Zustand sein wie die Pferde selber.“
„Na, dann viel Spaß“, murmelte Ulrike, „das kann ja heiter werden!“
„Und ob!“ rief Gaby begeistert. „Wann kann ich anfangen, Fräulein Faust? Morgen schon?“
„Eile mit Weile. Die Stallarbeit wird Herr Philipp einteilen, wenn es an der Zeit ist“, sagte Fräulein Faust. „Wenn du dich weiter so aufführst, liebe Gaby, wirst du bestimmt nicht dabeisein. Dann werde ich dafür sorgen, daß du Extrastunden bekommst …“
„Mein Zeugnis war doch ganz in Ordnung!“ protestierte Gaby. „Meine Eltern waren geradezu platt über die guten Noten!“
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