"Ja, Frechheit siegt", kommentierte Penni das. Und Happy sagte: "Ja" und nahm Penni bei der Hand, nachdem er sich schnell vergewissert hatte, daß niemand sonst aus der Gruppe mit auf diesem Aussichtsplateau stand. Der Junge, der sich als Führer ausgegeben hatte, zeigte deutlich, daß er nur ein Interesse hatte, nämlich die beiden Fremden ganz schnell in einen kleinen Laden hineinzudirigieren. Vor allem vorbei am Eingang der großen Verkaufsausstellung. Er behauptete einfach, dort sei schon geschlossen.
"Zumindest die Raffinesse der Jesuiten hat sich also bis auf unsere Tage erhalten", stellte Happy nach der wenig aufschlußreichen Besichtigung fest.
"Das imponiert dir, Odysseus, wie?"
„Na klar.“
Bei diesem Austausch der Erlebnisse am Abend, als fast alle was zu erzählen hatten, mußte Penni schweigen. Dabei hätte sie so gern berichtet: Dann sind wir einfach hinein in das Viertel der Hofhäuser. Die Kamera auf dem Bauch durch die engen Gassen spaziert, händchenhaltend. Das ist ja hier ein Staat, in dem einem nichts passiert. Die hängen ja jeden Räuber gleich auf. Und Happy hätte schnell korrigiert: Sie geben ihm den Genickschuß, ehe sie weitererzählt hätte: Wie das stank, an jeder Ecke anders, die phantastischsten schlechten Gerüche, die man sich nur ausdenken kann. Die Gassen lagen ja auch voller Abfälle. Da pinkelte einer hin, da lag das Hackmesser fürs Gemüsebereiten auf dem Boden. Leute hockten auf der Gasse wie die Chinesen ja immer hocken, so auf ihren Fersen sitzend, und sahen uns genauso unverhohlen erstaunt an wie wir sie. Alles eigentlich ganz friedlich. Aber der Dreck, der Gestank. Nur weg von hier, haben wir uns gesagt. Aber das war gar nicht so einfach. Das moderne Hochhaus, auf das wir zugingen, um wieder in eine bessere Gegend zu kommen, täuschte. Eine hohe Mauer ohne jedes Tor trennte es von dem Quartier der Hofhäuser ab. Also weiter hinein, durch die nächste Quergasse. Eine so dreckig wie die andere. Immer mal wieder ein total verrostetes Fahrrad an der Hauswand. Dann stand da ein Polizist an einer Ecke und unterhielt sich mit den Leuten. Wie angenehm, so einen Offiziellen in der Nähe zu wissen. Und dann war da sogar ein richtiger Laden: Zigaretten in einem winzigen Schaufenster, gerade nur so groß, wie bei uns ein Toilettenfensterchen. Und schließlich eine Eckkneipe, vielleicht badezimmergroß, mit vier Stühlchen vor der Tür. Ein alter Chinese, ein einbeiniger Glatzkopf in einem vorsintflutlich aussehenden Rollstuhl, das war der einzige Kunde. Vielleicht war das ja auch der Wirt selbst. Jedenfalls war von den Bewohnern des Viertels nicht viel zu sehen. Und das am frühen Abend. Ob die vielleicht alle vor der Glotze saßen? Fernsehantennen genug haben wir ja gesehen, einfach überall.
"Die Antennen", hatte Happy bei diesem Gang durch das Karree gesagt, "die täuschen die Betroffenen wie die betroffen dreinschauenden Touristen, die sich hier hineinwagen, darüber hinweg, daß man in diesen Vierteln mit Ratten und Kakerlaken und anderem Ungeziefer auf Du und Du stehen muß. Und wie die aus diesem Dreck kommenden netten Mädchen und jungen Frauen, die man auf den Boulevards sieht, das schaffen, sich in sauberen, bunten Kleidchen aufs Fahrrad zu setzen und frischeflatternd zur Arbeit zu fahren als führen sie durch einen Werbefilm, das ist mir ein Rätsel."
Kein Wort von Penni über die Erlebnisse dieses Tages, kein Bericht von Happy. Und niemand, der sagte: Ich habe Sie gesehen. - Glück gehabt.
Das Gespräch blieb bei den diversen Ereignissen des freien Tages. Und weil die so klein waren, bemühte sich jeder, sie etwas größer darzustellen. Bis der Schiffsingenieur meinte, einen Witz erzählen zu müssen. Man lachte pflichtschuldigst. Auch beim nächsten und dritten. Dann: "Wissen Sie, wo alle Frauen krauses Haar haben?" Schweigen, Verlegenheit. Happy dachte an die Formulierung, die er sich einmal zurechtgelegt hatte für den Wert der Umgangsformen: Sie sichern uns dagegen ab, daß wir in Situationen gebracht werden, mit denen wir nicht zurechtkämen. Der Schiffsingenieur genoß in triumphierender Rundumschau die Betroffenheit, lachte dann los und rief: "Reingefallen, reingefallen, in Afrika haben alle Frauen krauses Haar!"
Weil danach keine Gemütlichkeit mehr aufkommen wollte, berichtete Happy über den reichen Schatz an Anekdoten, den China habe. "Da war ein berühmter alter Eunuche, ein zu Reichtum und Ansehen gekommener ehemaliger Palasteunuche, der als sehr weise galt. Zu dem kamen eines Tages zwei Männer und baten, er möge ihnen zu heimischem Frieden verhelfen. Die beiden waren Vater und Sohn, und sie hatten immer Streit, weil der Vater seinem Sohn ständig Vorwürfe machte, er sei so schrecklich dumm, selbst der Enkel sei viel gescheiter als er. Der alte Eunuche hörte sich das in Ruhe an. Dann beschimpfte er den Vater: 'Was nimmst du dir heraus, deinem Sohn Vorwürfe zu machen. Du hättest allen Grund, still zu sein. Ist doch dein Vater weniger klug als sein Vater, und auch dein Sohn ist weniger klug als sein Sohn.' Da sah der Vater seinen Sohn mit ganz anderen Augen an, fiel ihm um den Hals und bat ihn um Verzeihung. Und sie gingen in Frieden nachhause."
Am späten Abend dann wieder das dreimalige Kratzen an Pennis Tür. Doch diesmal ging sie nicht so schnell auf. Happy sah sichernd den Flur hinauf und hinunter, ob auch niemand aus der Gruppe käme. Ihn sähe, wie er an einer fremden Tür steht, wie er wartet, daß sie endlich aufgeht. Saublöde Situation, schimpfte er in sich hinein. Dann ging die Tür auf. "Na endlich." Aber diesmal blieb Penni anschließend nicht mitten im Zimmer stehen wie eine Schaufensterpuppe, die umdekoriert wird. Sie hatte schon im Bett gelegen und war sofort wieder unter der Decke.
"Odysseus, du schon wieder?"
"Wer sonst sollte es denn sein?"
"Ich meine: Schon wieder?"
"In der Bibel heißt es: Ihr wißt weder den Tag noch die Stunde, wann der Herr kommt. Doch der Herr kommt täglich."
Penni kicherte ins Kissen und sah ihm aus den Augenwinkeln zu, wie er sich bemühte, schnell aus Hemd, Hose und Schuhen zu kommen. Und konnte ihm nicht ersparen: "Aber heute ist doch programmfreier Tag, hat der Herr Reiseleiter gesagt."
So ging der Dialog noch ein Weilchen weiter, während Happy sich zu ihr legte. Scherze, Worthülsen. Als hätten sie das Bedürfnis, sich einen Ausgleich zu schaffen für das Schweigenmüssen beim geselligen Zusammensitzen nach dem Abendessen. Da war von außerprogrammmäßig die Rede und von lieber unmäßig als mäßig. Auch von der strengen Forderung des Unternehmens, die Reisenden gleichmäßig zu behandeln, besonders die Damen im unterschiedlichen Alter, wie es in der Dienstanweisung hieß. Und davon, daß das so oder so, keusch oder unkeusch, über seine Kräfte gehen würde. Da waren plötzlich die älteren Damen der Gruppe mit im Bett, mit vielen fröhlichen Ohgottohgotts bedacht. Penni wollte ihm auch die jungen Ehefrauen als Sonderangebote präsentieren, doch er lenkte schnell ab, sprach nur noch von ihr, hatte viele schöne Namen für sie, nannte sie auch wieder "mein lecker Paketchen". Sie wußte, was danach kommen würde, und versuchte, ihm den Mund zuzuhalten. Und mußte es sich doch anhören: "Mein Speckengelchen. Du mein Speckengelchen." Und er griff ins Fleisch wie von monatelanger Seefahrt zurück. Und küßte es ab. Und hatte plötzlich nicht Hände und Lippen genug - und Stacheln.
Der chinesische Reiseführer freute sich unübersehbar, seinen deutschen Gästen den größten Platz der Welt vorstellen zu dürfen, den Tiananmen-Platz. „Als ob Größe an sich schon was wäre“, zischte Happy vor sich hin. Während Herr Li zeigte, daß er Bescheid wußte: "In Deutschland besser bekannt unter dem Namen Platz des Himmlischen Friedens."
Ja, schluckte Happy seinen Kommentar: Und das besonders seit dem Massaker vom Juni 1989. Damals hat die Weltpresse versagt, ärgerte er sich, weil er mit den damals umgebrachten und eingesperrten Studenten fühlte. Da hat sie versäumt, den Platz umzubenennen in Platz des Höllischen Massakers. Da war die Gelegenheit gegeben, eine Wortsetzung vorzunehmen und international durchzudrücken. Wer, wenn nicht die Presse, hat diese Macht. Aber die Presseleute blieben hündisch gehorsam am Platz des Himmlischen Friedens kleben. Wie sie an jedem kuriosen Ausdruck kleben bleiben, ohne einen Gedanken an seine Berechtigung zu verschwenden. So war das mit der Isolationsfolter und mit dem Berufsverbot und viel früher schon mit der Schutzhaft und mit dem Volksschädling.
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