1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Penni sah mal wieder betont zufällig zu Happy herüber, und ihr Blick sagte unübersehbar: Nichts für meiner Mutter Tochter. Er nickte ihr zu. Doch viel mehr als die Arbeitsverhältnisse beeindruckten Happy wieder diese sonderbaren Steine. Überall zu Mauern und künstlichen Felsen zusammengefügt, oft auch als Einzelstücke aufgestellt. Immer so bizarr wie möglich, mit sonderbaren Auswaschungen.
"Fast möchte man von Auswüchsen sprechen", sagte er zu der adretten Familie, die zufällig neben ihm herging.
"Ja", meinte der Vater, "wenn ich nicht wüßte, daß es sich tatsächlich um Auswaschungen handelt. Weil sie die kuriosesten Felsbrocken systematisch gesucht und sie dann für einige Jahre in fließende Gewässer gelegt haben, damit sie Gestalt annehmen."
"Hier haben sie doch tatsächlich einzelne besonders wildzackige Steine auf steinerne Podeste gestellt. Und mitten in das Höfchen. Da diesen Riesenbrocken, den haben sie auf einen Sockel gesetzt, den sie kunstvoll mit stilisierten Wellen geschmückt haben. Jetzt schwimmt der Fels davon wie ein Ozeandampfer."
"Warum nur hat man den Stein so selten behauen? Marmor hatten sie doch auch zur Verfügung. Warum haben sie also nicht eine Kultur der Plastiken entwickelt wie die Griechen und Römer?" Der kunstinteressierte Vater.
"Ich nehme an, weil sie das nicht wollten." Seine Frau.
"Und warum wollten sie nicht?"
"Eine Kultur, die ihre Pracht in Stoffen und Holz und gebrannten Ziegeln vortrug, die hatte vielleicht zuviel Hochachtung vor dem gewachsenen Stein, vor der Natur."
"Aber ist das nicht zu sehr aus unserem heutigen Blickwinkel gesehen, vielleicht doch schon zu sehr mit Naturschutz und Umweltbewußtsein und so fort verkleistert", gab Happy zu bedenken.
"Immer dasselbe Problem bei der Würdigung der Leistungen früherer Generationen." So der pensionierte Richter, der sich ihnen angeschlossen hatte. "Meist ist das Bewundernswerte gerade das, was uns Heutigen selbstverständlich ist." So kauten sie auf den Steinen herum, die wortlos im Weg liegen blieben.
Regen wird im Sommerpalast erst schön. Wie ihn jedes Höfchen anders einfärbt. Wie seine strenge Schraffur umspielt wird von der leichtesten Architektur. Wie er in schlanken Bäumchen zerbröselt. Der gedeckte Rundgang hat ihn schon erwartet. Zum Drippeltrommeln. Auch der Teich, der jeden schweren Wassertropfen mit einem Aufspritzer belohnt. Ein Diamantgeglitzer. Und auf den Lotosblättern wiederholt es sich unzählbar: Die Blumenkelche, wie sie sich füllen, allmählich, und dann in sanfter Verneigung ihre Last abgeben, an die demütigen Blätter darunter und in die dankbaren Kelche. Regen, das allem aufgesprühte Finish, läßt die Bilder ringsum eine andere Sprache sprechen.
Dreiviertel Kilometer lang sei der gedeckte Gang die Seelinie entlang, erklärte der Führer. Und er führe zu dem großen Marmorboot, auf dem die Kaiserinwitwe Cixi mit Vorliebe ihren Tee getrunken habe. Die Gemälde über den Köpfen der hier entlang Wandelden zählten nach Tausenden. Alles Darstellungen aus der Geschichte und der Literatur Chinas. Wie das zusammengeht, wunderte Happy sich: Geschichte und Geschichten. Das ist wahre Überlegenheit. Ob erfunden oder erlitten, wo ist da der Unterschied, wenn es nur heftig empfunden werden kann. In dem Moment beeindruckte es ihn kaum noch, daß der See künstlich geschaffen war - Wasser gehört nun einmal zu einem chinesischen Park, genau wie Berge und Felsen. Und auch der vollendete Schwung der Siebzehn-Bogen-Brücke dort drüben, hinter den Kähnen und Booten voller Menschen mit bunten Regenschirmen, auch dieses steinerne Meisterwerk verblaßte für ihn hinter den Abbildungen über ihm. Die so wenig zeigten und doch so viel zu sagen hatten. Daß er plötzlich verstand: Bilder nur mit den Augen zu sehen ist zuwenig. Ich müßte wissen, um verstehen zu können - um sie richtig schätzen zu können.
Im Hotelshop hatte er eine deutschsprachige Broschüre gefunden, in der aus dem Leben der chinesischen Herrscher berichtet wurde. Da erzählte ein Liu Guilin auch einiges über die Kaiserinwitwe Cixi. Über diese Frau, die mit Raffinesse und Rabiatheit eine Bilderbuchkarriere am kaiserlichen Hof gemacht hatte und sich im Alter in der Kunst der Geldverschwendung von keinem übertreffen ließ. Bei den Palasteunuchen hatte sie wegen ihrer Strenge nur der alte Buddha geheißen. Aber so streng war sie sich selbst gegenüber nicht. Zwar betonte sie immer wieder: Solange ich noch da bin, wird es niemandem erlaubt sein, den Ausländern nachzueifern. Aber sich selbst gab sie gern Dispens von diesem Prinzip. Schon das erste Auto in China legt dafür Zeugnis ab. Ein anderes Zeugnis gehört heute zu den Beständen der Nationalgalerie in Washington, nämlich ein gemaltes Porträt der Kaiserinwitwe. Eine junge Amerikanerin namens Katherine Augusta Carl hat sie gemalt, und die Gelegenheit dazu hatte ihr die Frau des amerikanischen Botschafters in Peking verschafft. Dabei war Cixi zunächst entrüstet über den Vorschlag, sich malen zu lassen. War es doch seit jeher üblich, daß nur von verstorbenen Personen Porträts angefertigt wurden. Aber der Hinweis, daß das Bild in Amerika öffentlich ausgestellt werden sollte, reizte doch zu sehr. Sich dem ganzen amerikanischen Volk und damit der Welt draußen bekannt machen, warum nicht? Auch die große Kaiserinwitwe gehorchte ihrem kleinen Ich.
So ließ Cixi die junge Malerin zu sich in den Sommerpalast kommen, um sie kennenzulernen. Eine Begegnung, die wider Erwarten so glücklich verlief, daß die Malerin gleich mit der Arbeit beginnen konnte. Als Wohnung wurde ihr eine nahe beim Sommerpalast gelegene Villa samt Dienerschaft zur Verfügung gestellt. Das war im Jahre 1903. Die Kaiserinwitwe war damals schon fast siebzig. So ist es nicht erstaunlich, daß ihr die Sitzerei und das Stillhalten bald zuviel wurden. Erst recht die Zumutung, sich jedesmal dasselbe Kleid anziehen zu lassen. So mußten zwei Prinzessinnen abwechselnd für sie Modell sitzen, bis die Arbeit am Gesicht begann. Es dauerte und dauerte. Nach acht Monaten war Cixi die Sache leid, das Porträt aber noch längst nicht fertig. Da konnte sie ihre Zweifel an der künstlerischen Kompetenz der jungen Amerikanerin nicht länger für sich behalten. Gegenüber der Malerin blieb sie zwar freundlich, hinter ihrem Rücken aber tat Cixi sie als unfähig ab. Dafür gab es scheinbar handfeste Beweise: Wie die Malerin weiße Perlen gemalt hatte, einfach unmöglich: hellblau und rosa schimmernd. Der chinesische Realismus hatte halt noch nie die Wirkung der Lichtbrechung berücksichtigt. Und dann der Fehler, daß die eine Gesichtshälfte dunkler war als die andere. Die alte holländische Malerei war auch nicht nach China gekommen. Und daß Fräulein Carl zuletzt ihren Namen unter das Bild der Kaiserinwitwe gesetzt hatte, ihren profanen Namen unter das Porträt der Herrscherin im Land der Mitte, das war einfach unerhört. Da mußte einiges verbessert werden.
Die junge Malerin machte wunschgemäß einiges, was als Korrektur aufgefaßt werden konnte, verstand es im übrigen aber, mit einer solchen Verbindlichkeit über alle Schwierigkeiten hinwegzugehen, daß sie schließlich fast schon die Freundin der Kaiserinwitwe wurde. Immer wieder mit Geschenken verwöhnt und schließlich fürstlich belohnt, konnte sie das Jahr Arbeit in Peking als vollen Erfolg verbuchen. Cixi auch. Ist die ehemalige Konkubine doch in der Welt draußen die bekannteste Herrscherfigur Chinas geworden, bedeutender als alle vier Kaiser, die sie neben und über - und auch unter - sich akzeptieren mußte während ihrer fast fünfzigjährigen Herrschaft.
Bei aller Kauflust seiner Leute, niemand außer Happy hatte die deutschsprachige Broschüre über das frühere Leben in der Verbotenen Stadt gekauft. So aufschlußreich und dabei so billig. Kein Interesse. Sehr aufschlußreich auch das. Kann man sagen, es gebe ein wirkliches Interesse und ein nur vermeintliches? Das kann man wohl so sehen. In Wahrheit sind meine Reisenden alle gleich in ihrem nur vermeintlichen Interesse. So gleich, daß sie sich bloß darin unterscheiden, ob sie die Chinesen als Kinesen oder als Schinesen bezeichnen. O sancta simplicitas! Aber in der ganzen Welt herumreisen müssen sie. Und sich darüber beklagen, man könne ja nicht mehr nach Florida fliegen, weil man da um sein Leben fürchten müsse. Und in Ägypten und der Türkei sei es mittlerweile genauso. Und in Algerien und Kolumbien erst recht. Aber Happy hatte es vermieden, in eine Diskussion mit seinen Leuten einzusteigen. Etwa über den Zusammenhang von Tourismus und Terrorismus. Darauf hinzuweisen, daß es die kleinen Leute sind, die den Terrorismus gegen Touristen einsetzen. Obwohl wir doch immer geglaubt haben, wir täten was für die kleinen Leute mit unserer Herumreiserei: Geld ins Land bringen und Völkerverständigung und so fort. Nicht daran denken, nicht daran rühren. Daran könnte man ja ablesen, daß unsere Herumreiserei den kleinen Leuten überhaupt nichts bringt. Weil wir vor lauter Komfortwünschen und Hygienebedürfnissen nicht in Kontakt kommen mit ihnen, und weil all unser Geld internationale Konzerne und staatliche Einrichtungen einstecken.
Читать дальше