1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Die Gruppe hat Uhrzeit und Ort der Abfahrt genannt bekommen. Damit ist jeder seinem Einzelerlebnis überlassen. Freie Zeit, sich frei unter Fremden zu bewegen. Aber diese Knipserei auf der Großen Mauer, sinnierte Happy, diese Allknipsorgie, das ist die Zerlegung der Masse in ihre Einzelelemente. Wobei allerdings äußerst selten nur ein einzelner Mensch aufs Bild kommt. Fast schon unmöglich. Die Apologie des lchs kommt hier an ihre Grenze. Ja, Grenze war das hier. Schon im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung haben sie erste Stücke dieser Mauer gebaut, um sich gegen die räuberischen Nomadenvölker im Norden zu schützen. Schade, der Versuch, sich in diese Zeit zurückzuversetzen, gelingt nicht. Auch daß im zweiten vorchristlichen Jahrhundert erstmals die Einzelstücke zu einer geschlossenen Mauer verbunden wurden, als Schutz gegen das nördliche Großreich der Xiongnu, bleibt mir nur angelesenes Wissen. Obwohl ich mir intensiv klarzumachen versuche, wie ich es ja auch immer meinen Reisenden empfehle, wie die Massen von Zwangsarbeitern aus allen Teilen Chinas sich hier mit den gewaltigen Steinquadern abgequält haben. Na ja, damals.
Und selbst wenn ich mich in unser Spätmittelalter zurückversetze, also ins Kürzlich, als die frühen Ming-Kaiser die Große Mauer vollendeten, bleibt doch alles nur Stein und Geschrei und Knipserei und Massenauflauf. Ist das nicht vielleicht sogar richtig so? Erst heute hat die Große Mauer ihre Bestimmung gefunden. War sie früher doch so nutzlos wie Riesenverteidigungsanlagen immer waren und immer sind. Die berühmten Zyklopenmauern Jerusalems haben dem Ansturm König Davids nicht trotzen können und haben später nicht die Kreuzfahrerheere davon abhalten können, die Bewohner der Stadt in ihrem eigenen Blut zu ersäufen. Der Limes hat das römische Reich nicht vor den Germanen und seinem Untergang bewahrt. Die Maginotlinie hat Frankreich nicht vor den deutschen Eroberern geschützt. Auch die deutsche Siegfriedlinie war eine Farce. Und genausowenig waren die Mongolen durch die Große Mauer davon abzuhalten, die Herrschaft in China zu übernehmen. Und der Eiserne Vorhang, die Berliner Mauer? Auch schon Schrott und Schutt. Nur immer Umstände machen diese Verteidigungsgigantomanien, ein wenig mehr Mühe bedeuten sie für die Eroberer, bestenfalls ein klein wenig Aufschub des Unabwendbaren für die, die sich mit soviel Aufwand zu schützen suchten. Und daß die so aufwendig Beschützten selbst aus der Umklammerung heraus wollen, so neu ist das auch nicht.
Ja, vielleicht sollte man die Große Mauer nur so sehen, von unten und aus der Ferne, wie wir sie jetzt bei der Rückfahrt sehen. Er nahm das Mikrophon und gab den Eindruck an seine Gruppe weiter: "Nicht mehr und nicht weniger als das Symbol des chinesischen Kaisertums, was Sie da sehen. Die endlose Hügelkette mit der zackenbewehrten Mauer ist ein gewaltiger Drache mit stachelbestücktem Rücken, der sich durch die Landschaft windet."
Regen - der Gleichmacher. Ob der Blick dahin ging oder dorthin: Die Stadt glänzte in allen Grautönen. Und selbst der Himmel, der ein helleres Grau zeigte als die Straße und die Hauswände, so zu glänzen wie sie, das schaffte er nicht. Die tausend Fahrräder rundum, sie waren unterwegs genau wie gestern. Aber nun trugen sie Zipfelmützen in grün oder weiß, rot oder grau. Auch in kaiserlichem Gelb und in himmlischem Blau. Sogar die gestern noch so frühlingshaft schick dahergefahren waren, die Mädchen und jungen Frauen, auch sie waren durch ihre Regenumhänge zu Dreiecken mit Zipfelmützen geworden. Darunter nackte Beine und Sandaletten. Und nirgendwo mehr eine Lenkstange zu sehen, weil der Umhang bis über die Hände reichte.
"Viele Pekinger", erklärte der örtliche Führer, "haben zwei Fahrräder. Mit dem einen fahren sie von daheim bis zur U-Bahn-Station und lassen es dort stehen, mit dem anderen fahren sie von einer anderen U-Bahn-Station zu ihrer Arbeitsstelle. Das sind natürlich nur alte Fahrräder, die so abgestellt werden. Gute und neue Fahrräder würden schnell gestohlen." Und zeigte seinen Gästen die Riesenpulks von abgestellten Rädern. Und die freuten sich, daß sie endlich eine Erklärung dafür hatten, warum sie so selten ein modernes Rad mit Schaltung sahen.
Happy fiel auf, daß er viel mehr Beschriftungen in englischer Sprache sah als bei seinem letzten Besuch in China. Auf den riesigen Werbeplakaten draußen wie auch im Hotel. Ausgerechnet die Sprache der Nation, die ihnen am meisten angetan hat, ausgerechnet die machen sie zur zweiten Landessprache. Und dachte an die beiden Opiumkriege Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als England das ganze Land mit Opium verseucht hatte und sich bei diesem barbarischlukrativen Geschäft nicht vom chinesischen Kaiser behindern lassen wollte. Wenn der Rauschgifthandel vom Staat selbst betrieben wird, dann gibt es keine Rettung. Mittelamerikanische Staaten machen das im Moment ja nach, wenn auch versteckter. Aber noch schicken sie keine Truppen aus, die ihren Absatzmarkt mit Gewalt offenhalten. Peking haben die Briten erobert, unterstützt von französischen Verbänden. Den wunderschönen Sommerpalast des Kaisers haben sie so gründlich zerstört, daß er nicht mehr aufgebaut werden konnte. Und jetzt lernen die Chinesen mit Eifer die Sprache ihrer Peiniger. Aber sie rächen sich auf eine sehr sublime Weise, fiel Happy auf. Oft schreiben sie ganze Sätze so, daß sie wie ein einziges Wort aussehen, fast schon gälisch wirken: myhomeismycastle.
Mir kann es ja gleich sein. Weil es einen neuen Sommerpalast gibt? Der steht jetzt auf dem Programm, das genügt. Von dem letzten richtigen Mann auf dem chinesischen Thron erbaut, von der berühmt-berüchtigten Kaiserinwitwe Cixi. Was für eine Frau. Als Konkubine dritten Ranges an den Hof gekommen, riß sie schließlich alle Macht an sich und führte nahezu fünfzig Jahre lang für ihr unmündiges Kind und dann für einen Kindkaiser dieses Riesenreich, das volkreichste der Welt. Erst im Jahre 1908 ist sie gestorben, also kürzlich, und doch lebte sie wie durch Jahrhunderte von uns getrennt. Da hängen alte Fotos in den fast leeren Räumen des neuen Sommerpalastes. Sie zeigen die Regentin Cixi stets in einer so steiffeierlichen Haltung, die Leute um sie herum müssen noch im heißesten Sommer gefroren haben. Daß der Fotograf die Aufnahmen nicht verwackelt hat vor Zittern, ist fast ein Wunder.
Ein Innenhof nach dem anderen, ein Holzbau mit schöngeschwungenem Dach nach dem anderen. Und der Regen machte die Besucher so gleich wie das Pflaster. In Regenhäuten und unter Schirmen huschten sie hierhin und dahin. Die Kameras gezückt. Dabei war nicht viel zu sehen. In der geräumigen Remise einige Kutschen und Sänften, die einmal größten Luxus signalisierten, so wenig bequem sie den Besuchern auch vorkommen mochten. Und dazwischen ein Auto, ein Benz. Der Führer erklärte: "Das was das erste Auto, das es in China gegeben hat. Es ist Jahrgang 1898, und es gehörte der Kaiserinwitwe Cixi. Sie hat auch einmal dringesessen, aber gefahren ist sie damit nie. Der Grund war: Sie legte Wert darauf, daß sie immer die Höchste war. Immerhin war sie ja die wichtigste Figur am Hofe. Vor ihr durfte man nur knien, aber nicht sitzen. Als der Fahrer sich ans Steuer setzen wollte, gab es ein Donnerwetter. Er sollte sich hinknien, und zwar ihr zugewandt. Damit war die erste Ausfahrt schon beendet und blieb auch die letzte."
Trotz der Absperrung versuchte Happy, sich in ihr breites Bett hineinzuversetzen, von dem aus sie den Opernvorführungen im gegenüberliegenden Theater zugeschaut und zugehört hatte. Ein pagodenartiger Bau, in dem auf drei offenen Bühnen übereinander gegen ihre Langeweile angespielt wurde. 384 Mann stark soll ihr Eunuchenensemble gewesen sein. Aber eine allmächtige Frau und Eunuchen, da bringt es auch die Menge nicht.
Wieso all die vielen Einheimischen hier herumspazieren könnten, wollte jemand aus der Gruppe wissen. Und der Führer verwies darauf, daß schließlich Sonntag sei. Sonntag als der Tag des Herrn, überlegte Happy, in einem ganz und gar unchristlichen Land ein wahres Kuriosum. Genau wie die Beschriftungen, die immer Zeitangaben vor Christus und nach Christus machen. Aber das mit dem Sonntag als arbeitsfreiem Tag gibt es ja erst seit der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 - nach Christus. So hat Karl Marx diesen Menschen hier doch etwas Positives gebracht, ein typisches Mitbringsel aus seiner frommen Vaterstadt Trier. "Allerdings haben nicht mehr alle Leute am Sonntag frei", schränkte Herr Li ein. "Inzwischen wird der freie Tag der Woche immer mehr auf verschiedene Tage verlegt, damit nicht alle Leute gleichzeitig zur Arbeit fahren oder gleichzeitig in die Parks gehen." Und erklärte auf Nachfrage, daß in China die Sechs-Tage-Woche herrsche, aber schon ein bißchen verkürzt auf eine fast Fünfeinhalb-Tage-Woche. Und: "Nein, einen Urlaubsanspruch haben die meisten nicht, aber die Lehrer und Studenten doch und einige andere auch schon."
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