"Dort ist der Aufenthaltsraum, dort sind die Toiletten." Happys Leute ließen sich in den Kunststoffsesseln im kahlen Saal des Kulturhauses nieder, wirklich vorbildlich in ihrer Geduld. Von fünf großen Ventilatoren umzingelt, in ihren Wind eingehüllt. Eine nagelneue Bestuhlung, stellten sie fest. Die Sesselbeine noch nicht alle ausgepackt, amüsierten sie sich über die Wellpappenstrümpfe. Auf dem Flur war ein großer Kessel aufgebockt, aus dem man sich soviel grünen Tee zapfen konnte, wie man wollte. Sehr heiß. Und Säfte in Pappkartons gab es, mit angeklebtem Strohhalm. Und die kleine lebhaft perpendikelnde Uhr an der Wand zog und zerrte die Zeit hin und her und dehnte sie wie Kaugummi. Endlich wurden Kunststoffpackungen à la McDonald's herangeschleppt und gegen Vorzeigen der Bordkarte verteilt: Reis und ein bißchen Fleisch in praktischer Bröckchenform, mit ein wenig Selleriegemüse.
Die Hauptsache, es füllt die Stunden. Das beste an dieser öden Insel, auf die es uns verschlagen hat, resümierte Happy, sind die Winde, die uns unermüdlich streicheln und tröstend besäuseln. Er hatte sich ein wenig abseits gesetzt, vor Verlegenheitsgesprächen geschützt, und überließ sich den Winden, dem Perpendikel und dem grünen Tee, der in seiner Hand langsam kälter wurde.
Als die Gruppe nach nur zwei Minuten Busfahrt wieder im Flughafen ankam und endlich ins Flugzeug einstieg, wurde Happy klar, was sie erlebt hatten. Aber er hütete sich, es seinen Leuten zu sagen: Da waren einfach zwei Flüge, die nicht vollgebucht waren, zusammengelegt worden. Jetzt lohnte sich der Flug: Die Maschine war bis auf den letzten Platz besetzt. Also auf nach Chinesisch-Südwest, auf nach Xi'an!
Ein Flug, das ist der seelenzerrende Spagat zwischen dem einen Erleben und dem anderen, der Moment zwischen den Zeiten. Eine Leerstelle im Stakkato, die sogleich von der Erinnerung okkupiert wird. Er sah Penni in der Reihe vor sich sitzen. Sie hatte ihn beim Einsteigen nur einmal kurz angeguckt, wie zufällig mit dem Blick gestreift. Für ihn hieß das: Guten Flug, mein Lieber! - Danke, konnte er nur denken. Danke auch dafür, daß du mir nicht übelgenommen hast, wie ich dich im Kaiserpalast einfach stehengelassen habe. Einfach meine Hand zu nehmen, öffentlich, in der Verbotenen Stadt. Verboten. Ein ganz großes, generelles Dankeschön für dein Verständnis, Penni. - Wie hatte er sich gewundert, daß sie so leicht zu dieser Reise zu überreden war. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Wofür nur hatte er lange hin und her überlegt, sich viel zu viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt, Argumente gesammelt. Da glaubt man als Reiseleiter, ein Frauenkenner zu sein, und dann so was. Sofort mit mir einig. Überhaupt nichts daran auszusetzen gehabt, sofort damit einverstanden, ganz kurzfristig die Chinareise zu buchen, für die man mich als Reiseleiter eingesetzt hatte. Für sie wahrhaftig ein Last-minute-Angebot, allerdings ohne Preisnachlaß. Im Gegenteil. Sie hatte natürlich zur Bedingung gemacht: In jedem Hotel Einzelzimmer. Aber gern, aber gern. Versprochen.
"Ich wußte gar nicht, daß du chinesisch kannst. Du bist ja ein wahrer Tausendsassa", hatte sie gesagt, bei dem Telefonat vorletzte Woche.
Und er hatte dieses Thema schnell abgetan: "Nun fang du nicht auch noch damit an. Das mit den Sprachkenntnissen wird immer nur von Laien wichtiggenommen. Ja, ich kann ein paar Brocken chinesisch. Aber nur so zum Spaß gelernt. Denn ich brauche in China kein Chinesisch, wie ich in Ägypten kein Ägyptisch gebraucht habe. Die einheimischen Führer, die uns überall zur Verfügung stehen, können ja deutsch. Und in den Hotels und Flughäfen kommt man mit englisch zurecht. Das ist die internationale Lakaiensprache. Eine ganz andere Frage: Ist dir das auch wirklich nicht zu teuer?"
Und sie hatte geantwortet: "Teuer? Ja, das ist es. Sehr teuer sogar. Aber ob zu teuer oder nicht, das hängt ganz von dir ab."
"An mir soll es nicht liegen", hatte er aufgetrumpft, "ich bin so ausgehungert nach Liebe, das kannst du dir gar nicht vorstellen."
"Und ob ich das kann. Ich stelle mir das sehr schön vor."
"Ich mir auch. Aber kein Mensch darf was davon mitkriegen, verstehst du. Kein Mensch. Sonst fliege ich raus."
"Ganz klar. Das Versteckspiel kennen wir ja noch von Ägypten her. Also the thame procedure as last year. War doch köstlich."
"Ja, aber die Reise war kürzer, gerade nur zwei Wochen. Und es war ja erst am Beginn der zweiten Woche, leider erst so spät, daß wir uns nähergekommen, ich meine, daß wir zusammengekommen sind. - Aber jetzt liegen volle vier Wochen Reise vor uns."
"Um so schöner."
"Vier Wochen, die wir fremd tun müssen, uns mit Frau Dingsbums und Herr Dingsda anreden müssen."
"Also willst du nun, daß ich mitkomme, oder willst du nicht?"
Und er hatte noch ein paar Mal bestätigen müssen, wie lieb ihm das wäre, wie er sich schon graute vor all den belanglosen Leuten, die er ständig um sich herum hätte, und daß er es so schrecklich fände, wie selten sie sich zu sehen bekämen, einfach zu weit voneinander weg, er in Mannheim und sie in München, und daß er ja nie das Geld übrig hätte für die Fahrt, und sie ja so wenig Freizeit und wie er sich auf sie freute ...
"Gut, dann fahr ich mit dir ins Reich der Mitte." Also sprach sie und band sich unter die Füße die schönen goldnen ambrosischen Sohlen. So homerisch hat es in mir gejubelt. Und nun ist sie da, nur noch eine Sitzreihe von mir entfernt, nun ist sie ganz für mich da. Und sie hat nicht gesagt, daß ich sie doch nur als meinen Sexualproviant mitnehmen wolle und daß sie sich dafür zu schade sei. - Lieb bist du, einfach lieb, Penni.
Eine gescheite moderne Frau versteht halt sofort, daß es für mich als gesunden Mann unzumutbar wäre, vier Wochen lang durch China zu reisen und dabei keine Frau zu haben. Sie kennt ja meinen Körper. Sie weiß, was ich brauche und was ich leisten kann. Wie kann ich als Reiseleiter wissen, was die nächste Gruppe in der Hinsicht zu bieten hat? Das Risiko ist einfach zu groß. Wenn ich nur an diese Venezuela-Tour denke. Eine Künstlerinnengruppe aus dem Raum Heidelberg und Mannheim. Warum nicht Künstlerinnen, hatte ich mich gefreut. Und dann waren das nur alte Frauen. Damen zwar, aber doch viel zu alte Frauen. Und die einzige, die nicht zu alt gewesen wäre, machte besonders deutlich auf Dame. Vielleicht war sie auch nur zu gut verheiratet mit ihrem Spitzenmanager der Wirtschaft, wie sie ihn bezeichnet hatte. Ein einziges Desaster. Besser man hat vorgesorgt, hat alles Notwendige bei sich. Und wenn dann wider Erwarten was Passendes in der Gruppe sein sollte, nun gut, man hat doch zwei Hände zum Streicheln.
Mit der anderen Hand eine andere streicheln, sozusagen eine Frau zur linken Hand, nein, das könnte ich mit Penni nicht machen. Penni ist anders. Schon bei dem Busausflug von Kairo nach Memphis - da hatten wir die rund tausend Kilometer lange Schiffstour auf dem Nil ja noch vor uns - schon bei dieser ersten Exkursion war sie mir aufgefallen. Wie sie mich angestaunt hat. Zunächst wohl nur wegen meiner etwas ungewöhnlichen Art, der Gruppe von sogenannten Studienreisenden die Altertümer Ägyptens vorzustellen. Ich hatte so was gesagt wie: Als Alexander noch der junge Fant und nicht der Große war, hat er hier seine Herrschaft errichtet, in der uralten Königsstadt Memphis. Und er soll hier einen Ausspruch getan haben, mit dem er, wenn es denn wahr wäre, den Berliner Public-Relations-Trick von Kennedy vorweggenommen hätte: Ich bin ein Sohn des Amon-Re. Das hatte bei der jungen Münchnerin Eindruck gemacht, unübersehbar.
Und dann mein Kurzvortrag in Sakkara: Nein, vierzig Jahrhunderte schauen nicht auf uns herab, wie Napoleon beim Anblick der Pyramiden vor seinen Soldaten geprahlt haben soll. Sagen wir lieber ganz schlicht: Hier trampeln wir mit unseren Schuhen auf vierzig Jahrhunderten herum. Denn was hier zur tollen Touristenattraktion geworden ist, das ist eine altehrwürdige Nekropole. Der Sand auf und inzwischen auch in unseren Schuhen und zwischen unseren Zehen ist uraltägyptisches Gebein, von den Jahrhunderten feingemahlen. Jetzt von uns wieder in Bewegung gebracht. Wenigstens dazu sind wir nütze. Wir machen Geschichte spürbar.
Читать дальше