Auf dieser Reise hatte ich oft Gelegenheit, meine Gedanken von der Leine zu lassen. Und meine Augen. Ob man durch die letzten staubigen Ecken eines Landes streicht oder ob man beinah alles über dieses Land und seine Leute Geschriebene liest, genauso gut kann man ja das Flechtwerk eines Korbsessels betrachten, mit Erobererblick jedem gebogenen Stöckchen nachgehen, an jedem Halteband entlangtasten, das sinnvolle Hin und Her ablesen, das handwerkliche Geschick abschätzen, die jahrhundetealte Erfahrung aufsaugen, die geheiligte Tradition - und auch den schon beginnenden Niedergang, die Auflösung, unübersehbar, nicht reparierbar, da und da und dort: Das Vergehen. Der Korbsessel als die Signatur des Lebens.
Peinlich, bei meinen Kurzvorträgen immer wieder die Erklärung geben zu müssen: Das steht heute in London, in Paris, in Turin, in Berlin. Immer mit einem vorwurfsvollen Unterton, pflichtschuldigst, weil ein Ägypter dabei ist, der deutsch versteht. Und nicht sagen dürfen: Ja, wären nicht die meisten Kunstschätze Ägyptens im vorigen Jahrhundert geraubt worden, vor allem von Franzosen, Engländern und Italienern, würden dann wohl heute so viele Europäer hierhin reisen, in den Dreck, die Hitze, das Durcheinander und Geschrei?
Die vom Schiffspersonal, die jede Gelegenheit und auch etwas mehr wahrnahmen, um auf der schmalen Außenkante des Schiffes herumzulaufen, sie revanchierten sich für die Neugier, mit der die Touristen ihr Land und ihr Leben ausspähten. Sie warfen mehr schnelle als scheue Blicke in die großen Fenster der Kabinen. Immer in der Hoffnung, einmal doch ... Kinderaugen vor dem Aquarium: Wie kriegen die Fische ihre Kinder? So lehrreich sie sind, auch Studienreisen haben immer eine Doppelfunktion. Und auch das gehört zu dem Problematischen an diesem Treiben.
Tell el Amarna, das heißt heute nur noch Bonzengräber. Waagerecht in die Felsen des Gebirgszuges hineingetrieben, in den Kalkstein, der uns auf der Ostseite des Flusses begleitet hatte. Aton, die Sonnenscheibe mit ihren Strahlenhändchen, mit der ganzen Pharaonenfamilie, dazu die Höflinge und die Soldaten, alle so überraschend realistisch in den Stein gehämmert. Fast schon zu realistisch, beinahe wie Karikaturen in ihren wilden Bewegungen, mit ihren dicken Wohlstandsbäuchen. Vielleicht waren diese Bilder tatsächlich witzig gemeint. Ein Herrscher, der es fertigbringt, seinem Volk eine neue Religion überzustülpen, dem ist zuzutrauen, daß er die Menschen nur als Karikaturen sehen kann. Diese flachen Reliefs. Eigentlich blöde, daß ich die übliche Erklärung kolportiert habe, die Handwerker hätten nicht soviel Zeit gehabt, tiefer zu arbeiten. Wegen der kurzen Regierungszeit ihres Herrschers. Heute würde ich das anders deuten: Die Flachreliefs zeugen von einer Hoch- und Spätkultur, die sich bereits selbst überlebt hatte. Nur noch ein schnellstreifender Blick für die anderen Menschen, weil man voll mit sich selbst beschäftigt ist. Kein tiefergehendes Interesse mehr an den Mitmenschen. Modern times. Wenn auch längst vermodert.
Geht es mir denn anders? Ich kann mir kein Vollplastischwerdenlassen der Figuren um mich herum leisten, habe ich Penni erklärt. Und es hat mir besonderen Spaß gemacht, sie mit diesem Bandwurmwort zu erschrecken. Das war irgendwann gegen Ende der Reise. Als sie sich wunderte, wie oberflächlich ich mit den Leuten umging. Viel zuviel Zeitaufwand, viel zuviel Gedanken- und Gefühlsverschwendung, habe ich gesagt. Ich liebe die Leute eindimensional. Nur bei dir ist das was anderes. Bei der Gelegenheit muß ich das mit dem Sexdimensionalen gebracht haben. Was ihr gefallen hat. Da kam keine Widerrede mehr, als ich sagte, für mich seien die Leute rundum nur Folien meines lchs. Sie sollen lachen, wenn ich einen Scherz mache, und staunen, wenn ich sie vor eine Sehenswürdigkeit stelle, und mir abnehmen, was ich ihnen erkläre. Mehr nicht. Denn eine Welt voll runder Charaktere, wo bliebe dann ich? Ja, ich bin ein typischer Vertreter unserer Spät- und Bachrunterkultur. Ich kultiviere den Slim-line-Kontakt. Das ist die Beziehung unserer Zeit. Wir kommunizieren ja noch, aber am liebsten so, daß wir dabei unser Gegenüber am ausgestreckten Arm aus dem Fenster halten. Je mehr Distanz, um so besser. Telefon, Telegraf, Telefax, Television und gesamttellurisches E-Mailing: alles in einem grotesk vertraulichen Tele-Pathos. Wie Penni einen anstaunen kann. Alle Löcher aufgerissen, als wollte sie den bewunderten Mann gleich inhalieren.
Unten im Tal der breite Streifen Nichts, der aus der Nähe gesehen doch was war. Nämlich das Übliche: Sand und Geröll. Und dann hart am Rand des Grünstreifens: Der Palast der Königin Nofretete. Da mußte man allerdings beide Augen zudrücken und nach innen schauen. Weil da nichts mehr war außer einem großen Rechteck mit Resten von Lehmziegelmauern. Ein paar Steinkonsolen dazwischen, auf denen einmal Säulen gestanden haben müssen. Mit einem Stacheldrahtzaun um das Ganze. Das war alles. Wenn man Zeit hätte, am Zaun stehen zu bleiben, kam mir damals in den Sinn, man könnte zusehen, wie die bloß in der Sonne gebackenen Ziegel unaufhaltsam weiter zu Nilschlamm zerfließen. Aber der Fahrer hupte ungeduldig, das Schiff wartete. Leben nach Fahrplan.
Wieder auf den offenen Anhänger hinter dem Traktor geklettert. Unser Geschichtsshuttle. Die schreiende Kinderschar blieb um uns herum, auf nackten Füßen genauso schnell wie der Traktor. Sie hielten aus Schilf geflochtene flache Körbchen hoch, ein wilder Konkurrenzkampf um die kaufunlustigen Touristen. Unsere unausgesprochene Frage: Was soll ich damit anfangen? Gegen ihre unausgesprochene Frage: Warum seid ihr so reich und wir so arm? Schließlich lege ich einem Mädchen ein Bonbon in das angebotene Körbchen. Ein in buntes Papier eingepacktes, schönes großes Bonbon. Das Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt erst, es bleibt stehen, plötzlich ruhig, schaut mich an mit diesen walddunklen Augen, die noch nie einen Wald gesehen haben, schaut den fremden Mann an, der es herausgehoben hat aus der Schar der anderen, bleibt zurück und winkt mir nach. Und ich winke zurück und bilde mir für einen kitzelnden Augenblick ein, einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Um mich danach immer wieder fragen zu müssen: Warum nur habe ich ihr nicht das Körbchen abgekauft? Ob ich es brauchen konnte oder nicht, das war doch kein Gesichtspunkt. Sie brauchte das Geld. Für ihre Familie. Und ich hätte das bißchen Geld gut entbehren können. Ja, ich habe mich diesem Mädchen gegenüber schofel benommen. Unentschuldbar schofel. Und dabei zu denken, daß dieses kleine Erlebnis für sie möglicherweise eines von den Erlebnissen gewesen ist, die ein Leben lang im Gedächtnis bleiben. Immer dieser fremde Mann auf dem Anhänger hinter dem Traktor, der sie auswählt aus der ganzen Schar von Kindern, der ihr in die Augen schaut und ihr ein Geschenk macht. Im Laufe der Jahre wird das Geschenk immer größer, der Blick in ihre Augen immer vielsagender, und eines Tages werde ich schuld daran sein, wenn sie unglücklich ist mit ihrem Mann: Weil der ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die der Fremde ihr geschenkt hatte. Damals.
Muß ich mir das vorwerfen? Was kann ich dazu, daß ich so vielen Frauen besser gefalle als andere? Weil ich ein Strohfeuer bin? Nein, nein, das ist es nicht. Weil ich halt besser bin als andere. Deshalb. Und daß sie durch mich zu anspruchsvoll werden, zwangsläufig, daß sie niemals mehr etwas ähnlich Gutes finden wie mich, ihr Pech. Denn ich bin einmalig.
"Halt dich zurück, Odysseus!"
Was ist das? Das kannst nur du sein, Penni. Nur du nennst mich Odysseus. Aber wieso kannst du mit mir sprechen, Penni? Einige Reihen weit weg von mir, zur Tarnung.
"Ich bin nicht Penni, nein."
Ist das die Stimme der göttlichen Athene, die mir stets hilfreich zur Seite tritt, wenn ich in Gefahr bin?
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