Mitten aus dem Wasserspiegel flammte eine Feuerlohe, das Bild der Sonne, die in Mittagshöhe stand. Er erschrak und sprang über das Geröll, das den Weg einfasste, und lief durch Busch und Anger auf sein Haus zu. Er hielt es nicht mehr aus, er musste sein Glück, den Gott seiner Jugend wiedergefunden zu haben, das er nicht in Worte fassen konnte, einem Menschen wenigstens hinstammeln. Wer der Mensch war, — ach es konnte nur einer sein, das Mädchen, nein der Mensch, die wunderbare Seele, die in der kranken Hülle der Resei wohnte!
Die Seele? Gibt es denn eine Seele? Und wenn nicht, was bezwingt denn in dem einfachen Mädchen, den schwachen, von Schmerzen verzerrten Leib, dass er immer lächelt?
Hastig wie sein Schritt und, hier und da vor einem Stein, einem Wurzelgewirre stockend, ging das Räderwerk seiner Gedanken. Ein Wühlen und Knirschen war in ihm.
Da stand er vor Resei. Sie lag auf ihrem Stuhl vor dem Hause in der Mittagssonne. So schnell wie sie es mit ihren verkrümmten Fingern vermochte, raffte sie in der Hand eine braune Perlenkette zusammen und barg sie unter der Schürze. Ein heiliger Ernst lag auf ihren Zügen, als wandle ihre Seele noch in einer anderen Welt. Dann aber leuchtete ihr Auge, und ihr Mund lächelte. An der Brust trug sie einen kleinen Blumenstrauss, ein bunter Falter sass auf ihrer Schulter und wippte mit den Flügeln. Hermann stand einen Augenblick in stummem Staunen da. Dann fasste er sich:
„O Fräulein, da hinten am kleinen See ist es wunderbar. Da versinkt man ganz in der göttlichen Majestät der Natur.“
Reseis Auge überflog ein Schatten.
„Die Berge und Seen und Blumen und Sterne sind. Geschöpfe des lieben Gottes wie wir.“
Das sagte sie so einfach und natürlich, so mit selbstverständlicher Überzeugung aus der Seele heraus, dass Hermann sich schämte.
„Nein, Fräulein, so habe ich es nicht gemeint.“ Sein Auge wurde feucht und plötzlich zitterte seine Stimme: „Ich habe den lieben Gott erkannt; den Sie meinen. Und das verdanke ich Ihnen, das weiss ich ganz bestimmt. Sie standen neben mir und legten Ihre Hand auf meinen Scheitel.“
Da bohrte sich ihm ein Dolch ins Herz. Mit ganz veränderter, aber ganz von Liebe durchtränkter Stimme sagte das Mädchen:
„Ja, ich habe für Sie gebetet, und wenn man für einen Menschen betet, dann leuchtet ihm die Gnade in der Seele auf.“
Das war der Flammenschein gewesen, der unablässig in seiner Seele geflackert hatte. Irgend etwas würgte in seiner Kehle, und stotternd sagte er, indem er Reseis Hand mit seinen Fingerspitzen berührte:
„Fräulein; ich danke Ihnen.“
„Danken Sie nicht mir, danken Sie dem lieben Gott. Jetzt wo er wieder vor Ihnen steht, beten Sie zu ihm. Sie sind jetzt begeistert und ganz von Gefühlen durchschauert. Aber wie lange? Beten Sie!“
Hermann hatte sich neben Resei auf die Türschwelle gesetzt, während sie halbsinnend ruhig vor sich hinsprach. Er hielt die Stirne in die Rechte gestützt. Die Linke drehte spielend den weichen Panamahut.
Resei schwieg, aber er glaubte im Sinnen, sie spräche weiter. Ihre ganze Erscheinung war wie stillfliessender, sanft zur Seele redender Quell.
„Fräulein, geben Sie mir bitte das Buch, in dem Sie das gelesen haben, was Sie eben sagten,“ sprach er plötzlich unvermittelt.
„Ja, ich habe manches im Laufe der Jahre gelesen. Ich habe einen Oheim, der Kapuzinerpater ist, der hat mir hier und da ein schönes Buch geschenkt. Aber die Bücher, in denen Sie am besten lesen, die haben Sie immer nah. Es sind die einsamen Berge mit dem stillen See und Ihre eigene Seele in dem nervenkranken Leib.“
„Kann man denn in seiner eigenen Seele lesen?“
„Ja, man kann in ihr lesen und auf ihre Sprache lauschen. Aber wie wenige Menschen tun das? Es gehört sich manchmal etwas Mut dazu. Wenn ich so die Menschen sehe, die an unseren See kommen, — selten kommt einmal einer allein. Immer sind sie in Gesellschaft, sie unterhalten sich über die dümmsten Dinge, oft sogar sprechen sie hier noch von ihren Geschäften. Wagt sich einmal einer allein heraus, so liest er noch auf dem Schiff in einem Buch und setzt sich drüben auf eine Bank und liest. Viele Herren haben kein rechtes Vergnügen, wenn sie keine Dame bei sich haben. All die Menschen haben eine schreckliche Angst, auch nur ein paar Minuten allein zu sein, sie fürchten sich vor ihren eigenen Gedanken, vor ihrer Seele und ihrer ehrlichen Sprache. Sie haben ihr Herz wund und müde gepeitscht in Arbeit und Vergnügen und nun gönnen sie ihm nicht einmal hier ein wenig Ruhe, dem armen, zuckenden, schreienden Herzen.“
„Sie haben recht, Fräulein, sie kennen die Welt und das Menschenleben wunderbar gut. So ist es auch mir ergangen, genau so. Und heute morgen hatte ich eine schreckliche Angst, sogar einen Trotz gegen meine eigenen Gedanken.“
„Das wird Ihnen noch oft so gehen. Ich habe das auch in mir erlebt.“
„Sie in sich? Sie leben ja hier im Himmel! Was wissen Sie von unseren Kämpfen draussen und unserem Ringen? Mein einziger Trost war bis jetzt Goethes Wort: ,Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‘ Ich habe immer ehrlich gestrebt, das ist meine Rettung und ist mein Stolz.“
„Sie sagten doch noch eben, dass ich das Leben und die Menschen wunderbar kenne, und nun streiten Sie es mir wieder halb ab. — Sie meinen, mein Leben habe sich so glatt abgewickelt! Ich habe mich auch nach Lebensfreude und Glück gesehnt. Das äussere war mir versagt, da musste ich mir das innere erkämpfen . . .“
„Das Ihnen aber jetzt auch zum äusseren geworden ist.“
„Ja, auch ich habe meine Gedanken gehabt, mit denen ich förmlich ringen musste, aber sie sind mir nie wichtig vorgekommen.“
„Es ist wunderbar, wie fein Sie sich in unsere Seelen einfühlen können und das Richtige ahnen. Es ist wahr, wir Gebildete gefallen uns zuviel in unseren wälzenden Gedanken, wir empfinden eine Lust der Selbstquälerei und halten an unseren Gedanken hartnäckig fest, wenn wir auch sehen, dass sie uns in einen Irrgarten führen.“
„Folgen Sie nur einmal dieser Gedanken, die Ihnen in diesen Tagen ganz natürlich kommen. Lassen Sie alle Erinnerung an früher und draussen gar nicht über die Schwelle Ihrer Seele treten. Und Sie werden erlöst sein.“
„Wovon?“
„Von sich selbst, von all den äusseren Dingen: der Arbeit, dem Vergnügen, der Lektüre, von allem, was Sie Ihre Bedürfnisse nennen und was Sie für Ihre Seele halten.“
„Zeigen Sie mir den Weg zu dieser Freiheit!“
„Das kann ich nicht, ich bin nur ein armes Weib; das kann nur die Gnade Gottes, und die müssen Sie sich erbeten.“
„Erbeten? Ich habe jahrelang nicht mehr gebetet. Ich weiss nicht, wie ich beten soll.“
„Und doch wissen Sie es. Sie haben heute morgen am oberen See schon stundenlang gebetet. Sie erkennen nun Gott über den Bergen. Wie gross ist er, der all die Schönheit vor uns ausbreitet, wie lieb ist er, der uns kleine Menschen zu sich heranzieht.“
„Reden Sie bitte nicht von der Liebe Gottes. Sie haben den Krieg nicht mitgemacht und all das Elend nicht gesehen. Nein, Gott ist grausam mit uns kleinen Menschen, er hat seine Lust an unserer Qual.“
„Ja, das wäre so, wenn unser Leib der ganze Mensch wäre. Aber unser eigentliches Selbst ist unsere Seele. Und dieser Seele wollte Gott durch den Krieg gut. Denken Sie an sich selbst. Sie werden den Krieg und die Führung Gottes durch den Krieg noch einmal preisen. Gott ist gut mit Ihnen. Grübeln Sie jetzt nicht mehr, sondern denken Sie ruhig. Die Berge und die Einsamkeit werden zu Ihnen reden. Ich habe auch für mich denken müssen, und die Berge und die Einsamkeit redeten auch zu mir.“
Hermann hob den Kopf und schaute mit sinnendem Auge auf den See und die Berge. Resei sah, wie er sann, und schwieg. Eine Biene umschwirrte die Blumen auf ihrer Brust. Sie verfolgte mit den Augen ihren Zickzackflug und lächelte zufrieden, als das Tierchen sich in einen Blumenkelch verkroch, um seine süsse Labe zu suchen.
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