Was hatten sie sich damals dabei gedacht!
Sie hatten das Touristenschiff, da wo es die Wende zur Rückfahrt macht, verlassen und waren in Wald und Fels umbergestreift. Mit dem letzten Schiff am Abend wollten sie heimkehren, hatten es aber verspätet. Jetzt galt’s, einen Kahn und einen Schiffer zu finden. Alle Bootsleute waren schon von Reisenden mit Beschlag belegt. Nur ein Kahn war übrig, hatte aber keinen Mann als Führer. Sie klopften und baten an zwei, drei Blockhäusern, aber alle Männer waren fort. Allein wollte und durfte man die unkundigen jungen Leute nicht fahren lassen.
Da erbot sich ein kräftiges junges Mädchen aus Mitleid mit den Verzweifelten, sie über den See zu rudern. Vielleicht würde sie auf der Fahrt ihren Bruder mit seinem Kahn treffen, der schon Fremde zurückruderte und jetzt auf der Heimfahrt begriffen sein musste. Dann könnte er ja ihren Kahn nehmen und sie selbst in den seinen übersteigen, um wieder nach Hause zurückzufahren.
Die Studenten freuten sich in dem Gedanken, von einem frischen, schönen Dirndl über den See gerudert zu werden. Heitere Scherze und unverblümte Komplimente umflogen das Mädchen, als es den Kahn zur Abfahrt fertig machte und sich mit dem grossen Ruder auf die breite Bank des Hinterschiffs stellte. Die übermütige Laune stieg mit jedem Ruderschlag und die poetische Stimmung mit dem Abendglühen der Bergkronen, über dessen Widerschein im Wasser sie dahinfuhren. Grüne, blaue und rote Lichter zuckten und webten in der von den Felsen eingeschlossenen Luft wie eine Waberlohe durcheinander. Einer der jungen Herren schmetterte den Walkürenruf in die Stille hinaus, sprang auf und wollte die Ruderin umfassen und küssen. Im selben Augenblick sass ihm die Hand des. Mädchens klatschend auf der Wange. Er torkelte zurück und brachte den Kahn bedenklich ins Schwanken. Als sei nichts geschehen, ruderte das Mädchen ruhig weiter, aber um ihre Mundwinkel ging ein Zucken, und in ihren schwarzen Augen standen Tränen. Die Herren Studenten sassen still und verschüchtert da; keiner sagte ein Wort. Sie fühlten sich wie gezüchtigte Hunde. Nach einer Weile erhob sich der Missetäter und bat ernst und ehrlich, wie vor einer Dame, um Verzeihung.
Der arme Kerl, Egon Weissenfels, ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle, später hochgeachteter Offizier, hatte bei Arras den Heldentod gefunden. Von manchen war er als Weiberfeind verlacht worden, weil er im Kriege gegen jede Art leichterer Lebenshaltung mit aller Strenge einschritt. Das hatte das Schiffermädchen aus ihm gemacht.
Er, Hermann Stürmer, hatte sich über die Entschuldigung des Kommilitonen geärgert, hatte sich nach dem Mädchen umgewendet in dem Gedanken, ihr durch ein gemütlich-zutrauliches Benehmen die Stellung als Siegerin wieder zu entreissen. Er langte mit dem Arm nach ihr, um sie zu umfassen. Da warf das Mädchen das Ruder nach ihm und sprang in seiner heldenmütigen Angst ins Wasser. Starr vor Schrecken sassen die andern da und schrien der dem Ufer zuschwimmenden nach, bis sie im Abenddämmer entschwand. Ihr blumengeschmückter, breitrandiger Hut schwamm auf den wie im leisen Erschauern sich kräuselnden Wellen.
Mit heisser Anstrengung gelangten sie endlich im Dunkel zum Anlegeplatz an der Landstrasse und flohen wie böse Buben noch in der Nacht zur nächsten Bahnstation. In den folgenden Tagen suchten sie mit zitternder Angst in den Zeitungen nach einem Bericht über ihr Abenteuer. Wenn das Mädchen ertrunken wäre! Aber es verlautete nichts.
So hatte Hermann Stürmer die Schreckendstunde im Laufe der Jahre vergessen. Es war ja auch nur ein dummes Bauernmädel gewesen. Wer wollte sich da noch viel kümmern!
Und nun fiel ihm das Begebnis heiss auf die Seele. Es war ihm, als stächen ihm Sepps Augen forschend ins Herz. Er wandte sich um und streifte mit einem prüfenden Blick Sepps Auge. Der aber schaute ganz unbefangen drein und meinte so obenhin:
„Ja, Herr Leutnant, jetzt sind wir gleich daheim. Schauen Sie, da hinten am End’ des Sees liegt unser Häuserl. Und die Stube unter dem Giebel mit den zwei offenen Fenstern und dem kleinen Vorbau, die ist für Sie eingerichtet. Da sollen Sie bald gesund werden.“
Wie konnte er aber auch auf den Kindischen Gedanken kommen, dass Sepp etwas von der Begebenheit wusste und erst recht, dass er ihn als den traurigen Helden von damals erkannte? Das Mädchen musste ja längst verheiratet sein und war vielleicht weit fortgezogen. Die ganze unangenehme Geschichte war sicher in der Gegend vergessen. Aber das nervöse Hämmern seines Herzens wollte sich doch nicht beruhigen.
„Schauen Sie, Herr Leutnant, da steht die Mutter schon an der Türe und erwartet uns.“
Hermann Stürmer schaute wie geistesabwesend hinüber, indes Sepp zu gewaltigen Ruderschlägen ausholte.
Jetzt schlug der Kahn einen Bogen und verlangsamte die Fahrt. Knirschend legte er am Ufer an. Sepp warf das Ruder auf den Rasen, fasste die Koffer und sprang leichtfüssig hinaus. Von seiner Hand gestützt folgte ihm der Gast.
Vom Hause her kam eine grosse stattliche Frau in der adeligen Landestracht den Uferhang hinunter.
„Das ist meine Mutter, Herr Leutnant.“
Die Frau reichte Hermann Stürmer die schwielige Hand und drückte sie mit einer Herzlichkeit, die noch mehr sagte als ihr schlichter Gruss:
„Seien Sie herzlich willkommen, Herr Leutnant, mein Sohn hat mir soviel von Ihnen erzählt, dass Sie gar nicht wissen, wie sehr ich mich freue, Sie ein paar Wochen in unserem Haus zu haben.“ Dabei fasste sie mit beiden Händen des Gastes Hand. Der wusste nicht, was er sagen sollte, so war er gefangen von der schlichten, ehrlichen Art der alten Frau. Die ganze Ehrlichkeit, die in ihren Worten lag, begriff er allerdings noch nicht. Und das war in diesem Augenblick gut für ihn.
„Ich danke Ihnen“ — fast hätte er gesagt ,gnädige Frau‘. — „Hoffentlich falle ich Ihnen nicht zu sehr zur Last, aber Ihr Sohn wollte es nun einmal nicht anders.“
„Und ich auch nicht.“ Dabei leuchteten ihre schwarzen Augen unter der freien Stirne.
Hermann Stürmer konnte den Blick nicht von ihr lassen. Wieder dasselbe. Gesicht von damals! Viel Arbeit und wohl auch Sorgen hatten ihr Runen um den Mund in die Wangen gegraben. Aber sie hatten nicht vermocht, die festen, energievollen Züge zu verwischen, die unter den Falten und Fältchen wie ein Heldengedicht von Mutterglück und sorgender Liebe hervorleuchteten. Die Krähenfüsschen, die strahlenförmig auf das Auge zuliefen, als wollten sie es zerhacken, vermochten nichts gegen die innere Fröhlichkeit und Seelenstärke, die aus den Tiefen des Auges wie ein heimeliges Feuer strahlte. Das Leid war wohl manchmal auf diese echte Tochter ihrer stolzen und starken Heimat hereingestürmt, aber die Spuren, die es in dieser Seele zurückgelassen hatte, mussten wohl nur vermehrte Kraft erzeugt haben, denn das schwere in Zöpfen um den Kopf gelegte schwarze Haar durchzogen nur vereinzelte Silberfäden.
Die drei gingen langsam in der kühlen Abendluft dem Hause zu, dass mit seinen blumenstockgeschmückten Fenstern auf den See hinausschaute.
Hermann Stürmer konnte den Blick nicht von der alten Frau lassen, die mit einem seiner Koffer vor ihm herging. Und dann schaute er wieder traumverloren in die Bergeinsamkeit, da wo sie, vielleicht eine Stunde hinter dem Hause, am tiefsten war und am geheimnisvollsten durch die Silberzunge eines Staubbaches sprach. Man sah ihn wohl von der Höhe ins Tal niederschiessen, hörte aber sein Rauschen nicht. Immer mehr kam Hermann zum Bewusstsein, wie die grosse Natur hier grosse Menschen geschaffen hatte, nur dass er noch nicht klar sah, worin die Grösse dieser Menschen bestand. Er selbst fühlte sich nur so unendlich klein vor diesen Bergen und diesen Menschen.
So trat er ins Haus. Die Mutter reichte Sepp den Koffer. „Führ’ den Herrn Leutnant gleich auf sein Zimmer, dass er sich etwas erfrischen und es sich bequem machen kann. Dann holst du ihn nach einem Viertelstündchen zum Essen ab.“
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