Hermann wusste nicht wie ihm war. Eine geheimnisvolle Macht zwang ihn, den Hut abzunehmen. Er stieg die wenigen Schritte zum Wasser hinunter und setzte sich in das Boot. Beim Einsteigen schaukelte die Zille ein wenig, und ein Wellenkranz legte sich in weiten, immer weiteren Kreisen um sie herum. Es war, als müsste beim leisen Plätschern und Glucksen der seidenen Wellen irgend eine schilfbekränzte Gestalt mit grossen Wunderaugen aus der Tiefe steigen. Hermann sah den Wellen nach, die das Sonnenlicht in sich aufsogen und es als glitzerndes Perlenspiel wieder zurückgaben. Langsam fielen ihm die Augen zu. Die Müdigkeit übermannte ihn. Aber eine selige Müdigkeit. Kein Laut nah und fern, und doch ein tausendstimmiges Knistern und Flüstern und Weben und ein langsames, tiefes Atemholen. — —
Und wie er sass und träumte, sah er in der Luft Strahlensterne blitzen, und ein tausendfacher krachender Hall donnerte aus den Bergen. Ein Geschrei erhob sich, ein Geheul und Röcheln. Er zuckte zusammen und schloss die Augen noch fester.
Da stand er im Schützengraben am Scherenfernrohr mit zwei anderen Offizieren, frischen, feinen jungen Menschen. Der Hauptmann, sein Freund, den er anbetend verehrte, Egon Weissenfels, lachte und scherzte in seiner unbezwinglichen Art. Er, Hermann Stürmer, ging zu seiner Kompagnie zurück. Nach ein paar Minuten schlug eine Granate ein, und Sanitäter trugen die beiden Kameraden und seinen Egon, zerfetzte Fleischklumpen, an ihm vorüber. Wäre er nur einen Augenblick später vom Beobachtungsposten weggetreten, so hätte man ihn geradeso fortgetragen. Warum hatte es ihn nicht auch weggerissen?
Er vergrub das Gesicht in die Hände. Dicke Tränen stürzten ihm aus den Augen. Ein wahnsinniger Schmerz, der ganze Jammer des Erlebten, riss an seinen Nerven. Er hob das Gesicht aus den Händen und stierte mit weit geöffneten Augen ins Leere.
Nacht war um ihn. Die Nacht eines Höhlenunterstandes. Neben ihm röchelte ein Landsturmmann in den letzten Zügen, ein Feldgeistlicher kniete neben ihm und sprach ihm Gebete ins Ohr. Und durch die dünne Bretterwand kreischte aus der Nachbarhöhle ein Grammophon: „In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht . . .“ Viel Schreckliches hatte er im Kriege gesehen und gehört, aber die beiden Erlebnisse waren ihm in der Erinnerung die furchtbarsten geblieben. Damals war sein Auge und Ohr und ein wenig seine Nerven dabei gewesen, jetzt zitterte der ganze innere Mensch. — Und jetzt hier Resei!
Er sprang auf und lief blindlings ins Gebüsch und Felsgeröll hinein, als wollte er vor sich selber fliehen. Da stiess er an einen hochragenden, moosbewachsenen Block. Ohne zu wissen, wie, blieb er stehen und lehnte seine Stirne an den kühlen Stein. Er fühlte seine Pulse hämmern wie das Ticken eines Motors und legte seine Hände auf den Felsen wie auf die Schulter eines Vertrauten starken Freundes.
Und wieder stand Egon im Geiste vor ihm, und er wollte seine Hand fassen. Aber der lag ja in Frankreich begraben.
In Überwallung des Gefühls umarmte er den Felsen und wollte ihn küssen.
Da blitzte es in seiner Seele auf wie ein blendendes Licht. Erschreckt trat er von dem Trumm zurück und stierte in die Gräser und Blumen.
Sollten diese Berge und der See und die Sonne und Egon und er eins sein, und all die Menschen, die sich da gegenüberstanden auf Mord und Tod?
Wenn die wunderbare Bergwelt und er eins waren, wie konnte sie dann im tiefsten Frieden und er so ganz freudlos sein? Und wenn sie mit ihm eins war, wie konnte sie ihn dann trösten, seine Seelenqualen stillen, seine Tränen trocknen? Sie war ja ebenso gequält und ratlos wie er! Also nirgendwo Ruhe, nirgendwo Glück! Wahnsinn! Und doch ein so wunderschöner Wahnsinn! Er kannte sich nicht mehr aus.
Er kannte sich selbst nicht mehr. O, in die Berge rennen und sich von einem Felsen in die Tiefe stürzen und ruhen, schlafen, schlafen nach all dem Irrsinn des Lebens!
Und doch!
Noch immer flammte das Licht in seiner Seele wie der Feuerschein eines gewaltigen Brandes am nächtlichen Himmel.
Und wenn er zerschmettert irgendwo in den Schluchten läge und die Geier auf seinen Körper niederstiessen, hätte er dann Ruhe? Wäre das Glück?
Und es schreit doch mit Millionen Zungen in ihm nach Glück . . .
„Glück will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Wer sagt doch so? Er hatte es einmal irgendwo gelesen. Der Klang der Worte ist der Nietzsches. Und er hat recht . . .
„O Kinderglaube komm doch wieder!“ . . .
Zitternd sank er in die Blumen auf die Knie und lehnte den Scheitel wieder an den Felsen. Da war es ihm, als lege sich eine weiche zarte Hand auf sein Haupt und ein feines bleiches Gesicht schaute ihn aus grossen schwarzen Augen an, lächelnd und voll unendlicher, sieghafter Güte. Und diese Seele war mehr, als die seine. Woher hatte dies Menschenkind so viel Grösse? — Und das Licht blitzte grell auf in seiner Seele. Denn sie hatte mehr aus ihrer Einfalt.
Da kam plötzlich ein Trotz über ihn. Seine Augen wurden kalt und trocken. Er sprang auf und rannte stolpernd den Weg zum See zurück.
„Von wem lasse ich mich hier übertölpeln. Blödsinnige Nerven!“
Aber das Licht flackerte weiter in seiner Seele und seine Seele rang nach Höherem, das fühlte er.
„Tu der Mensch seine Pflicht und gebe sich nicht mit Sentimentalitäten ab. Pflicht ist Arbeit eines jeden Menschen an seinem Platz. Was nachher kommt, ist alles Phantasterei. Nachher ist doch alles aus.“
Und das Licht flackerte weiter in seiner Seele, es wurde unruhiger und schoss funkelnde Flammengarben. Und immer wieder fragte er: „Woher hat diese Einfalt solche Höhe?“
Da stand er wieder unter dem Ahorn am Seeufer und warf einen stolzen Blick über das im Sonnengold strahlende Rundbild.
„Schade, dass man den Wasserfall nicht technisch ausnutzen kann! Ich müsste die Sache einmal studieren, vielleicht liesse sich doch hinten im Tal ein kleines Elektrizitätswerk für die Umgegend errichten. Wieviel Pferdekräfte wird der Fall hergeben? . . . Und wenn ich ihn zwinge, dann ist er doch nicht eins mit mir. Und wenn ich alle Naturkräfte in die Faust und unter die Räder bekomme, dann herrsche ich über sie, dann sind sie doch nicht Ich!“
Da fielen dicke Schleier von seiner Seele. Er sah die Bergwelt vor sich stehen in ihrer ganzen Erhabenheit. Wie die Orchestermassen des gewaltigen Schlusschors eines Oratoriums, das in ein Lob des Allerhöchsten sich aussingt, klangen die grauen und schwarzen Felsen ringsum, und wie das Jubeljauchzen der Sänger stiegen die weissen Firnen daraus zum Firmament empor. Vor der einfachen und darum so grossartigen Sprache der Bergnatur, vor den lapidaren Zügen, mit denen Gottes Hand seinen Namen für jeden denkenden Menschen vor ihn hingeschrieben hatte, brach das verkrüppelte Gedankengebäude rasch zusammen, das er sich, fern von sich selbst und fern von der eigentlichen Natur, in einem Scheinleben, zurechtgezimmert hatte. Er sah sich wieder als Knabe und Jüngling auf dem Gymnasium, als der er im Religionsunterricht zum ersten Male in heller Freude die Frage nach dem Schöpfer der Wunder der Welt gelöst und sie mit Paulus im Römerbrief beantwortet hatte.
Wie ihn das so plötzlich überkam, wusste er nicht, er war auch unfähig, die wirren Gedankengänge zurücksinnend aufzurollen. Er sah nur jenseits des Wustes die Wahrheit stehen, wie ihm jenseits des Wundersees die ewigen Firnen winkten.
Die Stunden, die er hier geweilt hatte, kamen ihm vor wie ein Gang in eine andere Welt, an deren Pforten er einen Riesen traf von überirdischer Majestät und Kraft. Ein kurzes Staunen, ein Anprall, ein ohnmächtiges Sichbäumen und ein beglückendes Besiegtsein. Seine Augen waren geöffnet, und das Licht der Wahrheit flutete hinein.
Er fühlte eine Hand nach seiner Rechten greifen, und ein schwarzes tiefes Augenpaar schaute ihn irgendwoher aus dem See beseligt an.
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