„Lieber Gott, ich danke dir, dass du ihn hierher geführt hast. Vollende jetzt dein Werk und lass mich für ihn leiden, soviel es dir gefällt. Mein Bruder rettete ihm das Leben; lass mich leiden, dass er recht lebe. Amen.“
Hermann Stürmer hatte eine unruhige Nacht verbracht zwischen tollen Träumen und wildem Umherwälzen. Seine Nerven zuckten, die Schläfen brannten, in den Knien lag ihm eine schmerzende, bleierne Müdigkeit. Alle Glieder taten ihm weh. Ah, wenn er nur fünf Minuten in dem kühlen See liegen könnte!
Erst am Morgen, als die Sterne erbleichten, sank er in einen schweren, traumlosen Schlaf. Plötzlich erwachte er, wie von einer starken Faust gerüttelt. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Alles still. Niemand war da. Nur ein Hahnenschrei draussen und ein kurzes Muh eines Rindes. Aber die Sonne schien hell in das Zimmer. Ein heimeliger Glanz lag in der niederen Stube. Er liess sich wieder in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Die Lider taten ihm weh. Ein ziehender Schmerz ging ihm durch das Gehirn. Allmählich verschwand das Webgefühl, er lag in halbbewusstem Schlummer und lauschte auf seinen eigenen Herzschlag. O wenn er doch immer so liegen könnte, bis er zur alten Kraft sich wieder durchgeruht und durchgeschlafen hätte! Nur schlafen, schlafen und alles Vergangene vergessen, nur für die tatenfrohe Zukunft erwachen!
Die Sonne stieg weiter am Himmel empor und warf mit ihren Strahlen aus der Höhe ganze Flammenbündel ihres Widerscheines aus dem See an die Wände und die Decke von Hermanns Stube. Wie eine goldene Flut durchdrang das Licht seine Lider. Er wurde vollends wach. Mit kurzem Entschluss stand er auf.
Während des Ankleidens brach plötzlich eine heisse Scham über ihn herein. Konnte er jetzt noch Sepp unter die Augen treten? Und erst recht Resei? Gestern abend bei dem Gefühlsgewoge seiner Seele hatte er die Sache doch zu leicht genommen. Wie würde man ihn in diesem Hause ansehen? Der Gedanke wurde ihm zur Qual. Er fühlte sich beschämt wie ein kleiner Bube und verrichtete seine Hantierungen unwillkürlich immer langsamer, um Zeit und Aufschub bis zum ersten Zusammentreffen mit einem der Hausbewohner zu gewinnen. Endlich war er fertig. Er wollte die Treppe hinunter und gleich hinausstürmen, um sich erst im Freien die nötige Ruhe zu ergeben. Aber als er über die Türschwelle hinaustreten wollte, kam ihm Mutter Aibl entgegen.
„Grüss’ Gott, Herr Doktor! Wohin so schnell? Kommen Sie zum Frühstück, es ist schon neun Uhr.“ Damit öffnete sie die Stubentüre und schob ihn hinein. Hermann wusste nichts zu erwidern und gehorchte willenlos.
Resei lag am selben Platz wie gestern abend neben dem Tisch, der nur mehr für den Gast mit Tasse und Brot gedeckt war. Das Mädchen streckte ihm die Rechte entgegen und liess ein Strickzeug in den Schoss sinken. Ihre Augen strahlten noch heller als gestern. Als Hermann die Hand berührte, sah er, was er gestern in der ersten Verwirrung nicht bemerkt hatte, dass die Finger fein und dünn waren wie Kinderfingerchen und steif gekrümmt wie Taubenfüsschen. Das ganze Mädchen fast nur mehr Geist, der Körper war von den Leiden verzehrt.
„Es freut mich, Herr Doktor, dass Sie solang geschlafen haben. Schlaf ist das beste Heilmittel für die Nerven, sagt man; ich weiss ja nichts davon, weil ich nie etwas mit den Nerven zu tun hatte.“
„Aber dafür um so mehr mit Ihren Leiden . . . Fräulein, verzeihen Sie mir . . . ich war ein Teufel.“
Seine Stimme zitterte, er sank in die Knie und drückte die Hand des Mädchens an seine Lippen.
„Nicht, Herr Doktor, führen Sie nicht solche Reden. Sie tragen gar keine Schuld. Ich habe Ihnen viel, sehr viel zu danken. O wenn Sie das Glück kännten, das Sie mir gegeben haben!“ Sie hob seine Hand ein wenig und er stand auf. „Jetzt frühstücken Sie. Schauen Sie, da bringt Mutter den Kaffee und die Milch. Trinken Sie nur recht viel Milch, soviel wie Sie wollen. Sie gehören ja dem Sepp, und was dem gehört, gehört auch uns; da müssen Sie halt tun, was wir Ihnen befehlen. Und dann gehen Sie hinaus, den Weg hinter dem Häusl geradeaus zum kleinen See. Den haben Sie noch nicht gesehen. O, da ist es schön! Da legen Sie sich ins Gras unter einen Busch und schauen immer nur auf den Wasserfall, der ganz weit hoch aus den Bergen kommt und lauschen auf die Vögel und lassen die kleinen bunten Käfer über ihre Hände laufen und denken gar nichts, rein gar nichts, den ganzen Morgen. Dann kommen Sie zu Mittag heim und haben die schönsten Stunden verlebt, die Sie verleben können. Sepp ist heute früh schon über den See gefahren, er muss zu Einkäufen in die Stadt. Morgen wird er Sie wohl in die Berge führen, dass Sie da Weg und Steg kennenlernen. — Schauen Sie, da ist mir mein Knäuel gefallen, heben Sie es mir mal bitte eben auf. — So, vergelt’s Gott. Nun essen Sie aber auch tüchtig und trinken Sie die Milchkanne ganz leer. — Sind Sie schon fertig? Dann machen Sie geschwind, dass Sie auf den Weg kommen, sonst sind Sie nicht lange allein draussen. Denn bald kommt das erste Schiff mit Touristen und die verderben einem die halbe Freud’.“
So redete das Mädchen in seiner ruhigen Art ganz unbefangen über den Tisch hinweg. Es war gar keine Hast in ihrem Sprechen und alles klang so natürlich. Hermann war erstaunt über die Feinheit dieses Menschenkindes, das ihm durch sein bewusst zwangloses Geplauder über die schwersten Augenblicke seines Lebens hinweghalf. Er stand auf und empfahl sich mit einer Verbeugung, in der zum erstenmal in seinem Leben innere Überzeugung lag.
Sepp und Resei und die Mutter waren die ersten ganzen Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war. Und der Sepp, der ihm im Felde als sein Bursche oft ein Rätsel war, passte ganz und gar zu den beiden Frauen und zu den Bergen mit dem See. Er war nur aus dieser Umgebung heraus zu verstehen. Dass er solange durchs Leben hatte wandern müssen, bis er einmal Menschen fand, denen man als Mensch gegenübertreten konnte! —
Wie er sich immer mehr in seine Gedanken verlor, wurde sein Schritt schneller und rüstiger. Er reckte seine hohe überschlanke Gestalt empor. Er wollte sich nach Reseis Anweisung richten. Es war ihm, als löse sich allmählich sein Gewand; aber das neue, das aus dem Himmelsduft und den Bergeslüften herab wie blaue Schleier sich um ihn legen wollte, schmiegte sich noch nicht seiner Seele an. Es war ein zuckendes Hin und Her, ein Weben und Knistern und Wirren in seinem Gehirn.
Da hob sich der Weg ein wenig über Felsgeröll hinweg. Ein weitästiger Ahorn stand da, etwas vornübergebeugt und träumte vor sich hin, ganz verschaut in etwas, das vor ihm im Blumenhag liegen musste. Hermann ging die Büsche entlang, die ihm zur Linken die Aussicht wehrten, auf den Schatten zu — und stand vor einem Märchenwunder.
Es war ihm, als lege sich ihm eine unsichtbare Hand auf seine Brust und ein Elfenfinger an die Lippen, dass er stehen und nicht den leisesten Laut von sich geben sollte, um das tiefste Geheimnis der Berge, das dort schlief, nicht zu wecken.
Ein Silberspiegel lag vor ihm, so glatt und eben, wie er nur von den feinsten Händen zarter Berggeister geschaffen werden kann. Ein See, so gross und so klein, dass er gerade eben ein See genannt werden konnte. Ein Wasser so tiefdunkel, so schwarz und doch so hell und licht, dass das in der Seele aufsteigende Grauen sich im selben Augenblick in den Jubelruf himmlischer Lust verwandelte.
Wie weisse, grüne und blaue Strahlen ging es vom See aus, in dem sich die schräg abfallenden Felsen, die Waldbüsche und des Himmels Blau widerspiegelten. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo das Wasser aufhörte und der Fels begann. Endlich fand sein Auge in dem kristallenen Flimmern und Flirren einen Ruhepunkt.
Aus der grauen, von weissen Firnen gekrönten Felswand fern jenseits des Sees stürzte ein Wasser fall wie ein sich schlängelndes Silberband in den Tannenforst hinab. Vor den Tannen breitete sich ein lichtgrüner Almenteppich bis zum See, und auf der grünen Matte stand ein Sennerhäuschen, als wolle es die Stille und Einsamkeit noch besonders betonen. Um den See zog sich, soweit die schroff ins Wasser abfallenden Felsen es gestatteten, ein schmaler Fusspfad, bald dicht am Ufer sichtbar, bald in Gebüsch und Geröll sich verlierend. Unter dem Ahorn, an seinen Stamm gelehnt, stand, eine Bank, im Wasser träumte zwischen Ried und Schilf ein halbzerfallener ruderloser Kahn.
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