Der Diener Anton trat zurück und stellte die Schüssel auf die Kredenz. Er sah kreidebleich aus, und Frau Justine fragte ärgerlich: „Was ist Ihnen denn nur?“
Er stotterte: „Gnädige Frau müssen es doch eben auch gehört haben – ich meine die Geräusche – und gnädige Frau kennen doch sicher die Sage von den stummen Gästen von Zweilinden.“
Frau Justine wechselte einen Blick des Einverständnisses mit ihrem Manne, sah Bettina warnend an und erwiderte: „Sie müssen geträumt haben, mein Lieber. Ich habe gar nichts gehört. Ich war nur verblüfft über Ihr Benehmen, und ebenso ist es meinem Mann und Fräulein Claudius ergangen.“
Man durfte vor den Dienstboten nicht zugeben, daß doch etwas an dem Spuk war. Sie wollte noch einen Satz hinzufügen, aber schon bei der ersten Silbe stockte sie, denn wieder vernahm man das helle Gläserklingen.
Frau Justine hatte graufahle Wangen, und Bettina sagte mit zitternder Stimme: „Anton hat ganz recht, es ist zum Erschrecken. Warum wollen wir uns denn etwas vormachen, wenn wir doch alle dasselbe gehört haben?“ Sie erhob sich. „Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin seelisch durch den Tod meines Vaters schon so sehr herunter, daß ich mich davor fürchte, den Spuk vielleicht noch einmal hören zu müssen.“
Dieter von Welten lachte so laut, daß es scharf von den Wänden widerhallte.
Oh, wie häßlich war das laute Spottlachen in einem Trauerhause!
Bettina drückte ihr Taschentuch vor die Augen und entfernte sich so hastig, als sei sie auf der Flucht
„Gehen Sie auch gleich“, rief Justine dem Diener zu, „sonst werfen Sie vor Angst noch das ganze Geschirr hin! Wir bedienen uns allein weiter. Aber eins bitte ich mir aus: Machen Sie durch den Mumpitz nicht das ganze Personal konfus. Erfahre ich, daß Sie Ihre Einbildungen als Wahrheit weitererzählen, werden Sie nicht mehr lange in diesem Hause sein. Und jetzt gehen Sie!“
Anton ließ sich das nicht zweimal sagen; er verschwand schleunigst. Wenn er über den gräßlichen Spuk nicht reden sollte, auch gut, er konnte schweigen.
Das Ehepaar aber sah sich an, und der Mann fragte leise: „Was hältst du von der Geschichte? Glaubst du, daß sich jemand hier einen dummen Witz mit uns erlaubt hat?“
Seine Frau zuckte die Achseln.
„Wie kann ich das wissen? Ich weiß nur, daß man diese Geräusche, die wir eben gehört haben, wenn ich nicht irre, laut Kirchenchronik schon im Jahre 1740 gehört haben will.“
„Quatsch!“ brummte Dieter von Welten etwas ungalant. Doch gleich darauf blickte er betroffen seine Frau an, denn schon wieder stießen feingeschliffene Gläser mit hellem Klang aneinander; dann wurden Stühle gerückt.
Frau Justine erhob sich überstürzt.
„Ich muß bekennen, ich habe jetzt auch genug. Es ist verdammt ungemütlich in der Gegenwart dieser Gäste, die man nicht sieht, die kein Wort sprechen und doch so deutlich ihr Vorhandensein kundtun.“
Ihr Mann schob ebenfalls seinen Stuhl zurück. Obwohl er noch kurz vor dem Essen zu seiner Frau geäußert, er möchte die stummen Gäste von Zweilinden gern kennenlernen und sie wären ihm hoch willkommen, war ihm jetzt nicht ganz wohl zumute. Er brummte: „Ich werde die Geschichte gründlich untersuchen und dem Unfug schon auf die Spur kommen.“
Seine Frau wollte antworten, doch sie schwieg entsetzt. Schritte wurden laut. Es war, als gingen mehrere Personen an ihr vorbei, obwohl kein Mensch zu sehen war. Dann verstummten die Schritte. Die seltsamen, spukhaften Gäste hatten den Bankettsaal verlassen.
Schleunigst folgte ihnen das Ehepaar; beide fürchteten, der Spuk könne wiederkehren.
In ihrem Zimmer aber lag Bettina auf dem Bett und weinte bittere Tränen. Ihre Nerven waren völlig überreizt.
Sie sann, das vorige Mal hatten die stummen Gäste von Zweilinden wirklich Unglück angekündigt; wer weiß, was für ein neues Unglück sie meldeten. Ihr Herz schlug ganz matt, von einer dumpfen Angst gequält, und sie empfand zum erstenmal, was sie bisher noch nie gekannt, Furcht vor dem Leben.
Sie war froh, daß Wulf Speerau nicht kam, und sie verließ ihre Zimmer nicht mehr.
Am nächsten Vormittag erschienen auf dem Gute zwei Herren vom Amtsgericht der Kreisstadt in Begleitung des Bürgermeisters des Dorfes Zweilinden und legten vor alle Räume Siegel, damit sie nicht mehr betreten werden konnten.
Bettina durfte ihre Zimmer zunächst behalten; auch den Weltens ließ man ihr Logierzimmer, und die Dienerschaft durfte ihre Stuben weiterbewohnen, aber außer der Küche und der Speisekammer war alles gesperrt worden. Am 1. Juli, das war in fünf Wochen, würde die Dienerschaft entlassen werden. Auch Bettina und das Ehepaar Welten mußten sich dann andere Unterkunft suchen, bis die Erbschaftsangelegenheit geklärt sein würde.
Der alte Inspektor Ernst Flügge jedoch durfte auf seinem Posten bleiben, damit der Gutsbetrieb keinen Schaden erleide. Er sollte die Verwaltung weiterführen wie zu Lebzeiten seines Herrn.
Am Spätnachmittag dieses Tages kam Wulf Speerau. Er wollte ein bißchen horchen, ob Bettina noch nicht wußte, wann die Testamentseröffnung stattfinden würde. Gewöhnlich fand sie doch bald nach der Beerdigung des Erblassers statt.
Bettina empfing ihn in der Halle. Sie erklärte ihm: „Alle Zimmer sind versiegelt vom Amtsgericht aus. Vater hat nämlich kein Testament gemacht, und nun wird Ottfried gesucht. Findet man ihn nicht, erbt Frau von Welten alles.“
Sie befanden sich beide allein in der Halle und hatten seitlich auf einem Ledersofa Platz genommen. Wulf Speerau glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Zum Teufel, er mußte sich verhört haben! Konrad Zweilinden hatte ihm doch an jenem verhängnisvollen Vormittag vorgeworfen, er spekuliere nur auf die reiche Erbin. Also hatte Zweilinden doch in der Pflegetochter seine Erbin gesehen. Trotzdem, wie oft kommt es vor, daß mancher, in kindischer Furcht, dadurch den Tod herbeizurufen, immer wieder hinausschiebt, seinen letzten Willen festzulegen, und nachher gibt es dann ein arges Durcheinander.
Aber schließlich, aus Mangel an Arbeit würden die Herren vom Amtsgericht nicht die Zimmer im Schloß unter Siegel gelegt haben.
Ganz kalt wurde dem Grafen, und ihm ging nun durch den Kopf, daß er, anstatt klug gehandelt zu haben, wie er gemeint, eine kapitale Dummheit gemacht hatte.
„In Kürze wollte Vater ein Testament zu meinen Gunsten machen, sagte Justizrat Eisen“, erzählte Bettina, „aber weißt du, Wulf, mir liegt ja gar nichts daran, ob ich reich oder arm bin. Du hast mich lieb, und ich werde deine Frau. Wenn wir unser tägliches Brot haben, wollen wir zufrieden sein, nicht wahr? Die Hauptsache ist doch, daß wir uns liebhaben.“
Wulf Speerau schwieg, der Kopf war ihm so schwer, als sei er mit Blei gefüllt, und er wußte nicht, was er antworten sollte.
Bettina blickte ihn zärtlich an.
„Die Liebe ist das Schönste und Beste im Leben, und wenn man sich keine wertvollen Kleider kaufen kann, dann kauft man sich eben einfache, und wenn Wein zu teuer ist, dann trinkt man Wasser. Ich muß am 1. Juli hier ausziehen. Ich werde mir überlegen, wo ich bis zu unserer Hochzeit unterkrieche.“
Jetzt kam Wulf Speerau endlich wieder zu sich.
„Weißt du, das ist aber doch ein tolles Stückchen, das sich dein Pflegevater mit dir geleistet hat. Erzieht dich wie eine große Dame, in einer Weise, als wärest du seine leibliche Tochter, und dann läßt er dich zurück als Bettlerin. Gemein ist das, hundsgemein.“
Bettina starrte ihn groß an, erwiderte mit zuckenden Lippen: „Ich bitte dich, Wulf, nie mehr in solchem Tone von meinem Vater zu sprechen. Er hat das, was du ihm vorwirfst, nicht absichtlich getan. Der Tod hat ihn überrascht! Nicht er trägt die Schuld, sondern sein Mörder. Dieser Mensch, den man leider noch nicht aufgespürt hat, dieser verfluchte Mensch, der keine Ruhe auf Erden finden soll.“
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