Kaum war man zu Hause angelangt, ließ sich Justizrat Eisen melden, der Rechtsbeistand und Berater des Verstorbenen.
Dieter von Welten, ein sehr eleganter Herr Mitte der Fünfziger, mit schlauen Augen, seine etwas derbknochige Frau und Bettina hatten sich in das Arbeitszimmer des Verstorbenen begeben. Man empfing nun dort den Justizrat, der auch an der Beerdigung teilgenommen hatte. Er grüßte die drei erst durch eine Verneigung und reichte Bettina dann teilnehmend die Hand.
„Ich komme gewissermaßen privat, Fräulein Claudius. Eigentlich ist es Sache des Amtsgerichts, Sie über den rechtlichen Stand der Erbfolge zu unterrichten, und das dürfte auch in allernächster Zeit geschehen. Aber als Freund des Toten, der Sie wie eine Tochter geliebt hat, fühle ich mich verpflichtet, Sie über einiges Wichtige aufzuklären.“
Bettina bot ihm Platz an, erwiderte matt: „Alles, was mit der Erbschaft zusammenhängt, interessiert mich gar nicht. Ich bin noch viel zu durcheinander, um schon jetzt an dergleichen zu denken.“
Justine von Welten neigte den sehr glatt gescheitelten Kopf.
„Ich verstehe unsere Bettina nur zu gut. Sie hat eben ihren Pflegevater sehr liebgehabt, und es ist schmerzlich für sie, sich mit dem Nüchternen zu befassen, das so ein Todesfall im Gefolge hat.“ Sie strich sanft über die Hand Bettinas. „Du solltest aber doch hören, mein Kind, was dir der Herr Justizrat glaubt mitteilen zu müssen. Es ist sehr freundlich von ihm, daß er sich privat bemüht.“
Bettina sah den Justizrat mit großen, verweinten Augen an.
„Ich will zuhören, Herr Justizrat“, sagte sie leise. „Sprechen Sie nur.“
Das Ehepaar wechselte einen verständnisvollen Blick. Es schien ihnen beiden auch wichtig, zu hören, was der Justizrat Bettina mitteilen würde.
Karl Eisen war klein und ein wenig dick. Seine hellbraunen Augen funkelten immer sehr lebhaft hinter dem goldumrandeten Kneifer. Er holte tief Atem. Es schien ihm keine leichte Aufgabe, die er hier erfüllen wollte – nein, mußte! Er hielt sich für verpflichtet dazu.
Er begann: „Sie wurden von Herrn von Zweilinden wie eine leibliche Tochter gehalten, Fräulein Claudius, und ich weiß genau, Sie waren seinem Herzen teuer. Um so mehr, da er keine Kinder besaß; denn sein Sohn lief im Jähzorn und Trotz eines Tages fort und blieb weg. Der Grund dazu war nicht besonders wichtig, wie wir alle wissen, und es paßt wohl in diesem Falle das Sprichwort: Kleine Ursachen, große Wirkungen! Doch zur Sache: Es ist mir sehr, sehr unangenehm, was ich Ihnen jetzt erklären muß, Fräulein Claudius; aber, wie gesagt, ich halte es für meine Pflicht. Ungefähr vierzehn Tage vor seinem jähen Tode war Ihr Pflegevater bei mir, und seltsamerweise sprach er, was er eigentlich nie tat, von seinem Sohn. Er meinte, er wäre damals wohl zu hart zu ihm gewesen, und meinte auch, in nächster Zeit möchte er sein Testament machen. Er würde sich einmal gründlich überlegen, wie er sein Hab und Gut zwischen seinem Sohn und Ihnen teilen sollte. Auch möchte er nach Ottfried suchen lassen. Wenn man ihn nicht fände, deutete er an, bekämen Sie alles. Aber, Fräulein Claudius, das ist nicht die Hauptsache, das Wesentliche ist, Ihr Pflegevater wollte ein Testament machen. Doch er tat es nicht, und da Sie in keiner Weise irgendwie in verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm standen, werden jetzt der Erbschaft wegen vor allem Aufrufe nach Ottfried von Zweilinden erlassen werden.“
Frau Justine hatte hektische Flecke auf den gelblichen Wangen, als sie fragte: „Und wenn mein Neffe Ottfried sich nicht meldet oder gar sein Tod nachgewiesen werden könnte, wie wäre die Erbfolge dann?“ Sie fügte betont hinzu: „Ich bin doch Konrad von Zweilindens Schwester.“
„Leider!“ erwiderte der etwas temperamentvolle Jurist, der Justine von Welten nicht ausstehen konnte.
„Leider? Wie meinen Sie das?“ stellte Welten ihn sofort zur Rede.
Justizrat Eisen machte ein harmloses Gesicht.
„Ausreden lassen, meine Herrschaften!“ erwiderte er ruhig. „Ich wollte sagen: Leider gibt es wahrscheinlich für die Erben eine lange Wartezeit, aber wenn sich der Sohn des Verstorbenen nicht meldet, dürften wahrlich Sie, Frau von Welten, als nächste Blutsverwandte Herrn von Zweilindens die Haupterbin sein. Sie, Fräulein Claudius, sind auf die Großmut der Erben angewiesen. Vielleicht wäre Ihnen später ein Prozeß anzuraten. Da Sie wie eine Tochter des Verblichenen erzogen wurden und bestimmt glauben mußten, daß Ihre Zukunft von ihm sichergestellt werden würde, haben Sie immerhin gewisse moralische Ansprüche, Gründe, die zu Ihren Gunsten ausgelegt werden würden.“
Bettina hatte kaum richtig zugehört. In Gedanken war sie noch am Grabe des Pflegevaters, und ihr erschien nebensächlich und belanglos, was der Justizrat mit Wichtigkeit erklärte.
Sie erwiderte mit tränenerstickter Stimme: „Ich möchte ja gar nichts erben und will mich mit niemand deshalb herumstreiten. Ich verstehe, daß mein lieber Vater es gar nicht so eilig damit hatte, sein Testament zu machen. Er war ja so gesund, so sprühend von Leben und Kraft. Und er lebte ja auch noch und wäre noch viele Jahre am Leben geblieben, wenn es keine hinterhältigen, feigen Mörder gäbe.“ Ihr Gesicht färbte sich, und die blauen Augen schienen vor heißer Erregung fast schwarz. „Ich bin nicht rachsüchtig. Noch nie habe ich einem Mitmenschen etwas Böses gewünscht; aber dem elenden Mörder wünsche ich, falls er nicht noch entdeckt wird und die wohlverdiente Strafe erhält, daß sein Dasein in Armut und Elend führt. Daß es ihm schlecht gehen soll bis ans Ende seiner Tage.“
Der Justizrat nickte. „Ich verstehe Ihren Zorn, Fräulein Claudius. Wir wollen indes hoffen, die Polizei findet den Mörder noch, obwohl es aussieht, als habe die Erde ihn verschluckt. Und jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Mir lag nur daran, Sie vorzubereiten.“
„Ich danke Ihnen, Herr Justizrat“, gab Bettina mit mühsam erzwungener Ruhe zurück. „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich verzichte gern auf die Erbschaft.“
Sie dachte an Wulf Speerau, der sie liebte und sie nun wohl so rasch wie möglich heiraten würde, damit sie immer bei ihm bleiben durfte. Er liebte sie ja so sehr. Daran mußte sie glauben und sich über den Tod des Vaters damit zu trösten suchen, daß Gottes Wege unerforschlich waren.
Der Justizrat schüttelte den Kopf.
„Sie sehen alles anders, als ich es sehe, Fräulein Claudius. Ich bitte Sie jedenfalls, wenn Sie irgendeinen Rat brauchen oder eine Hilfe, sich an mich zu wenden. Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung.“
Als er fort war, entschuldigte sich Bettina bei dem Ehepaar und suchte ihr Schlafzimmer auf.
Sie sehnte sich nach einem Stündchen des Alleinseins, um sich zu sammeln.
Das Bild ließ sie nicht los, wie man den Sarg des Pflegevaters in die kahle Erdgrube gesenkt hatte, unter den steinernen Baldachin, der das Erbbegräbnis überdachte.
Nachdem sie gegangen war, blickte sich das Ehepaar lange an, und Dieter von Welten schmunzelte: „Wenn sich der Bengel, der Ottfried, nicht meldet, dann erbst du den ganzen Krempel, Weib meines Herzens. Das wäre wirklich eine feine Sache. Ich male mir das schon aus, ich hier als Herr von Zweilinden und du als Herrin. Donnerwetter, sollte das ein Leben werden!“
„Was würde aber aus Bettina?“ fragte seine Frau.
„Sie wird den Grafen Speerau heiraten“, antwortete er. „Man gibt ihr dann eine nette Aussteuer. Das sieht nobel aus und kostet nicht viel.“
Beide lachten sich an und stellten sich vor, wie sie hier leben würden, wenn ihnen das Erbe zufiele, wozu sie doch alle Aussicht hatten.
Ein Mädchen kam und suchte das gnädige Fräulein, sie müsse sie etwas fragen. Die Dienstboten sahen jetzt alle in Bettina die Herrin.
Читать дальше