Justine von Welten sagte scharf: „Sie meinen mit dem gnädigen Fräulein doch Fräulein Claudius, nicht wahr? Vielleicht kann ich Ihre Frage auch beantworten. Vergessen Sie, bitte, nicht, ich bin die Schwester des Verstorbenen und hier groß geworden.“
Es klang hochmütig.
Das Mädchen antwortete eingeschüchtert: „Die Köchin schickt mich. Ich möchte das gnädige Fräulein nur fragen, ob das Essen heute lieber unten im Bankettsaal angerichtet werden soll? Damit sich das gnädige Fräulein im Eßzimmer nicht zu sehr daran erinnert, daß sie dort immer ihrem Vater gegenübergesessen hat.“
Seit dem Tode Konrad von Zweilindens hatte man Bettina die Speisen in ihrem Wohnzimmer serviert. Sie hatte allerdings herzlich wenig davon genossen.
Frau Justine plusterte sich ein wenig auf. Sie fühlte sich schon ganz als Herrin hier.
„Es ist ziemlich warm, und es wäre, abgesehen von jeder Rücksicht, überhaupt ganz nett, wenn wir im Bankettsaal speisen würden. Also soll dort aufgetragen werden.“
Das Mädchen ging, und Justine von Welten meinte zu ihrem Mann: „Ich werde den Dienstboten bald beibringen, daß ich jetzt hier die Hauptperson bin und nicht mehr das Schullehrermädel.“ Sie lächelte. „Erinnerst du dich an die alte Sage, die ich dir früher einmal erzählte, Dieter, die im Bankettsaal spielt? Wir standen mit Konrad immer schlecht. Ich glaube, außer bei unserer Hochzeit hast du den Bankettsaal gar nicht gesehen. Schau ihn dir heute nur ordentlich an.“
„Ich erinnere mich wirklich an keine alte Sage, die du mir erzählt hättest, Justi“, erklärt er, und seine Augen lächelten sie an. Was tut man nicht dem Mammon zuliebe!
Dieter von Welten lebte von dem Vermögen seiner Frau sorglos, aber nicht wie ein reicher Mann. Doch jetzt bestand die Aussicht, es bald zu können. Und solch einer Frau muß man ein bißchen schöntun.
Frau Justines hellblaue Augen, die von spärlichen Wimpern umrahmt waren, blickten verträumt.
„Du weißt, vor ungefähr zweihundert Jahren ist Zweilinden erbaut worden, und unter dem Sohn des Erbauers, Kraft Erdmann von Zweilinden, der ein großer Sonderling gewesen sein soll, zeigte sich der Spuk zum ersten Male. Ich drücke mich falsch aus“, verbesserte sie sich, „es ist merkwürdigerweise kein Spuk wie üblich. Ich meine, man hört ihn nicht sprechen, und doch müssen es Geister sein, die sich bewegen. Man vernimmt ihre Schritte, hört, wie sie sich Stühle zurechtrücken und wie sie Glaskelche aneinanderklingen lassen. Man nennt den Spuk: Die stummen Gäste von Zweilinden!“
„Nun, gar so stumm scheinen sie doch eigentlich gar nicht zu sein, die seltsamen Herrschaften, Justi“, spöttelte der Mann. „Übrigens erinnere ich mich jetzt, du hast mir früher mehrmals davon gesprochen. Aber man vergißt solche Dinge. Also gehören die stummen und körperlosen Gäste von Zweilinden zur Klasse der Poltergeister, scheint mir.“
Seine Frau lachte. „So ist es! Allzu oft machen sie sich hier ja gerade nicht mausig. Zwischen ihren verschiedenen Debüts vergeht immer geraume Zeit. Aber es heißt, sie treten stets dann auf, wenn Zweilinden ein Unglück droht. Dann hört man vorher im Bankettsaal Schritte mehrerer Menschen, obwohl man niemand sieht. Danach werden Stühle gerückt, ohne daß sich ein Stuhl bewegt, und schließlich klingen feine Gläser aneinander, so, wie wenn man vor dem Trinken eine Gesundheit ausbringt und mit den Gläsern anstößt. Damals, zur Zeit Kraft Erdmann von Zweilindens, soll man die unsichtbaren Gäste oft gehört haben, und kein Besuch hätte sich schließlich mehr hier sehen lassen, steht in der alten Kirchenchronik, in der es auch heißt, er sei ein eigentümlicher, sonderbarer Mann gewesen, der Kraft Erdmann, der bessere Freundschaft mit den Sternen und dem Getier gehalten als mit den Menschen. Verschiedentlich im Laufe der langen Zeit wollen Glaubwürdige den sonderbaren Spuk vernommen haben; ich aber habe ihn, so sehr ich mich als Kind und auch später dafür interessierte, niemals gespürt.“
Dieter von Welten lachte.
„Ein origineller Spuk. Er fällt völlig aus dem Rahmen der weißen Frauen und grauen Nonnen und ollen Ritter. Ich würde mich freuen, wenn die sogenannten stummen Gäste von Zweilinden, die ja eigentlich genug Radau machen, uns einmal das Vergnügen bereiten würden. Mir wären sie hoch willkommen!“
Dann rückte das Paar zusammen und begann eine eifrige Flüsterunterhaltung. Sie drehte sich um die Erbschaft. In den Augen der beiden brannte die Gier nach dem Reichtum, den Konrad von Zweilinden hinterlassen.
Wenn sie dieses Geld erst hätten! Das war ihr einziger Wunsch, diese Gier nach der reichen ErbSchaft.
Dann konnte ihnen doch alles andere ganz gleichgültig sein.
Als zum Essen gerufen wurde, benachrichtigte man auch Bettina. Sie entriß sich gewaltsam ihrem Gram. Sie wollte stark sein, Wulf zuliebe. Vielleicht erschien er noch gegen Abend, und sie durfte ihn nicht mit dick verweinten Augen begrüßen. Ihr Schmerz war der seine, tat ihm so weh wie ihr, weil er sie liebte.
Sie wollte auch etwas essen; sie mußte doch einmal in die Gewohnheiten des Alltags zurück.
Sie betrat den Bankettsaal ein wenig zögernd. Lieber hätte sie im Speisezimmer gegessen als hier, obwohl ihr weh tat, den Platz des Vaters leer zu sehen. Aber hier unten überfiel sie die Erinnerung an den Spuk der Mitternachtsstunde, als sie aus den Armen des Liebsten gekommen. Wenn sie auch wollte, sie konnte nicht mehr mit ein paar beliebigen Erklärungen über das Erlebnis hinwegkommen, denn am nächsten Mittag war ihr Vater ermordet worden. Sie glaubte jetzt an die stummen Gäste von Zweilinden und daß sie Unheil verkündeten.
Sie nahm Platz. Der Diener servierte lautlos. Man sprach nicht viel während des Essens. Bettina würgte von allem ein paar Bissen hinunter und hörte still zu, wenn Justine von Welten und ihr Mann ein paar Worte über das herrliche Wetter oder über die Speisen wechselten. Da der Diener anwesend war, fiel es Justine von Welten nicht ein, das Thema zu berühren, das ihr jetzt das wichtigste und interessanteste schien: das schöne Thema der Erbfolge.
„Warum sind die Läden halb zu?“ wandte sich Herr von Welten an den Diener.
Dieser erwiderte höflich: „Ich glaubte, die Sonne würde die Herrschaften vielleicht belästigen. Sie scheint gerade auf die Tafel hier.“
„Unsinn!“ erwiderte Dieter von Welten. „Machen Sie die Läden weit auf. Sonne und Luft sollen voll herein.“
Es fiel ihm nicht ein, Bettina zu fragen, ob ihr diese Anordnung recht war.
Gestern, ja, sogar heute vormittag hätte er es noch getan; aber nun er wußte, sie war nicht die Erbin, die er bisher in ihr gesehen, hielt er jede besondere Rücksicht für überflüssig. Das einzige, was ihm noch an Bettina imponierte, war, daß sie die Frau des Grafen Speerau werden würde.
Der Diener erfüllte sofort den gegebenen Befehl; aber er beugte sich ein bißchen ungeschickt aus dem Fenster, um die Läden ganz zu öffnen, und stieß sich dabei ziemlich stark an den Ellbogen.
Tölpel, dachte Frau Justine; aber ihr tat der energische Stoß, den der Diener erhalten, ja nicht weh. Sie ließ sich noch einmal den Kalbsbraten reichen, es schmeckte ihr ausgezeichnet. Infolge der Aussicht, bald eine sehr reiche Frau und die Herrin hier zu werden, schmeckte ihr alles gleich noch einmal so gut.
Der Diener hielt die Schüssel, und Frau Christine legte ein paar Scheiben des Bratens auf den Teller. Bettina dachte unwillkürlich, wie konnte nur eine Frau, deren Bruder man heute zu Grabe getragen, so großen Appetit entwickeln!
In diesem Augenblick erklangen plötzlich Schritte, tappten durcheinander über den Fußboden.
Die drei am Tische vergaßen das Weiteressen und starrten sich an. Die Schüssel, die der Diener hielt, fing an, sich zu bewegen, so sehr zitterten die Hände des Mannes, weil nun Stühle gerückt wurden, ganz nahe, als schöbe man ein paar der leeren Stühle hier an der Tafel zurecht. Und jetzt klangen feine Kelche aneinander, obwohl weder Herr von Welten noch seine Frau oder Bettina Claudius ihre Gläser berührten.
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