,,Ist das der Stahlfabrikant?“
Clayton nickte.
„Da der Besucher sich auf Reston berief und auch sonst einen guten Eindruck machte, hatte ich keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Er sprach davon, ein Kollier in Auftrag geben zu wollen und ließ sich die Diamanten zeigen. Ich legte das Tablett vor ihm auf den Tisch. Dann wollte er etwas anderes sehen. Ich drehte mich um und holte ein anderes Tablett. Ein paar Minuten später fiel mir auf, daß der größte Diamant fort war. Ich war natürlich sehr erregt“.
„Verständlich“, brummte Jo.
„Ich fragte sofort nach dem Diamanten“, fuhr Clayton fort und tupfte sich mit einem seidenen Tuch über die Stirn. „Der Kunde empörte sich daraufhin und verlangte, ich sollte die Polizei holen. Aber das wollte ich nicht. Schließlich bot er eine Leibesvisitation an. Um Ärger zu vermeiden, ging ich darauf ein. Ich wollte die Polizei nicht ins Spiel bringen. Der Name der Firma leidet durch derartige Aktionen, das habe ich vor drei Jahren erlebt!“
„Sie fanden natürlich nichts“, sagte Jo.
Clayton nickte.
„Es steht eindeutig fest, daß Miller den Diamanten nicht bei sich hatte. Natürlich war er gründlich verärgert, aber was sollte ich tun? Er erklärte, er würde nie wieder bei mir kaufen. Möglicherweise ist Reston jetzt auch verärgert.“
„Das glaube ich kaum“, meinte Jo, der bereits einen bestimmten Verdacht hatte.
„Aber wo ist der Stein? Ich bin ganz sicher, daß er vor Millers Besuch auf dem Tablett lag. Mir ist die Sache einigermaßen rätselhaft.“
„Sie hatten noch eine Kundin heute vormittag, sagten Sie?“
„Ja, eine junge Dame. Sie ließ sich einiges zeigen, aber sie kaufte nichts.“
„Wie sah sie aus?“
„Gut!“ Clayton lächelte matt. „Ein klares, etwas blutleeres Gesicht, wie man es auf alten Bildern sieht. Hellblondes Haar. Schlicht gekleidet. Sie muß aus sehr vermögendem Haus stammen. Ich habe einen Blick für so etwas. Wenn man dreißig Jahre lang Juwelier in Long Island ist, kann man die Leute einschätzen.“
„Ihren Namen kennen Sie nicht zufällig?“
„Nein.“
Jo schnippte sich eine Chesterfield aus der Packung und strich gedankenvoll mit der Hand über die Verkaufsvitrine. Sie war aus kostbarem Holz gefertigt; oben war eine dicke Glasscheibe eingelassen. Die Steine ruhten auf blauem Samt.
„Haben Sie eine Vorstellung, wo mein Diamant hingekommen ist?“ erkundigte Clayton sich ungeduldig.
Statt einer Antwort bückte Jo sich und sah sich die Vitrine von unten an. Gleich darauf tauchte er wieder auf.
„Sie sind auf den Kaugummitrick hereingefallen, Mr. Clayton“, sagte er. „Eigentlich ist das ein alter Hut. Sollte Ihnen nicht passieren!“
„Kaugummitrick?“ wiederholte Clayton verständnislos.
„Ihr erster Kunde, der sich Miller nannte, hat den Stein gestohlen. Während Sie sich abwandten, klebte er ihn mit einem Kaugummi unter die Vitrine. Dann konnte er in aller Ruhe den Empörten spielen und sich durchsuchen lassen. Eine halbe Stunde später kam seine Partnerin und holte in einem unbeobachteten Augenblick den Stein unter der Vitrine hervor. Dieser Trick ist schon seit langem aus der Mode, weil die meisten Juweliere ihn kennen.“
„Aber mir ist er neu“, platzte Clayton heraus.
„Hier können Sie sehen, wo der Diamant angeklebt war.“ Jo drückte seine Zigarette aus. „Ihre junge Dame aus vermögendem Haus ist die Partnerin eines Gangsters, Mr. Clayton. Das hätten Sie wahrscheinlich nicht für möglich gehalten.“
„Nein“, sagte der Juwelier. „Und ich habe mir immer auf meine Menschenkenntnis etwas eingebildet. Was schlasen Sie nun vor, Mr. Walker?“
Jo zuckte die Achseln.
„Da ist nicht viel zu machen. Vielleicht erkennen Sie den Burschen wieder.“
„Aber wie?“
„Ich könnte mal ins Police Headquarter fahren und mir die Fotos der einschlägigen Gauner besorgen. Die meisten sind dort registriert. Vielleicht haben Sie Glück und erkennen den Burschen wieder. Aber sicher ist das nicht. Sind Sie wenigstens versichert?“
„Natürlich.“
„Nun ja“, meinte Jo und griff nach seinem Hut. „Ich rufe Sie wieder an, Mr. Clayton. Vielleicht haben wir sogar Glück und finden Ihren Diamanten wieder.“
„Hoffentlich“, sagte der Juwelier und brachte Jo an die Tür. „Jedenfalls beruhigt es mich, daß Sie sich um die Sache kümmern. Ich werde sofort die Anzeige erstatten; das muß ich, sonst bekomme ich den Schaden nicht ersetzt. Natürlich ist es nicht gut, wenn eine Firma wie Clayton und Anderson mit der Polizei zu tun hat, aber was will man machen?“
Jo verabschiedete sich und fuhr in die Stadt zurück.
Er maß dem Fall keine besondere Bedeutung bei. Dieser schien weder kompliziert noch gefährlich.
Daß das ein Irrtum war, sollte Kommissar X bald erkennen.
Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon. Es meldete sich Clayton.
„Hören Sie, Walker, es ist etwas Unglaubliches passiert“, ächzte der Juwelier. „Ich habe den Burschen wiedergetroffen.“
„Den Diamantendieb?“
„Ja. Ich war gerade auf dem Rückweg vom Headquarter. Am Times Square lief er mir über den Weg.“
„Was haben Sie gemacht?“
„Ich habe ihn verfolgt. Wenn ein Polizist in der Nähe gewesen wäre, hätte ich ihn verhaften lassen. Aber bei diesem Wetter ist es wie verhext. Kein Uniformierter weit und breit. Und wenn ich mal falsch parke, ist gleich ein halbes Dutzend da.“
„Wo ist der Mann jetzt?“ erkundigte Jo sich.
„Ich bin ihm bis in die 7. Avenue gefolgt. Er ist im Lincoln Building verschwunden. Ich habe dort gesehen, wie er in den Lift stieg und in die zwölfte Etage fuhr. Konnte ich an den Lichtknöpfen erkennen.“
„Wo sind Sie jetzt?“
„Im Lincoln Building, unten in der Halle.“
„Okay“, sagte Jo, „ich bin in zehn Minuten bel Ihnen.“
Die Strecke von Bronx über die Triborough Bridge nach Manhatten war Jos Hausstrecke; er hätte sie im Schlaf fahren können. Sein spinatgrüner SL hielt auf diesen fünf Meilen seit Jahren den Streckenrekord.
Nach genau zehn Minuten steuerte er auf den Parkplatz des Lincoln Building.
Er stemmte seine einsachtzig in die Höhe, überquerte den Parkplatz, wobei er den Pfützen auswich, und betrat die Halle. Suchend sah er sich um. Von Clayton war nichts zu sehen.
Das Lincoln Building war in den Dreißiger Jahren entstanden. Es beherbergte im wesentlichen Büros und ein paar feudale Wohnungen in den oberen Stockwerken.
Jo ging zum Glaskasten des Portiers.
„Erinnern Sie sich an einen Gentleman, der vor zehn Minuten hier telefonierte? Klein, graues Haar, gut angezogen?“
Der Mann legte die Zeitung fort.
„Der ist mit dem Lift nach oben gefahren.“
„Danke“, sagte Jo. Hoffentlich hatte Clayton nicht versucht, auf eigene Faust Detektiv zu spielen.
Er fuhr in die zwölfte Etage. Auf dem langen Gang stöckelten ein paar Mädchen mit Aktenordnern an ihm vorbei. Clayton war nicht zu sehen.
Jo ging an den Glastüren vorbei und sab sich die Aufschriften an. Zwei Anwälte waren hier, ein Filmverleih und eine Exportgesellschaft. Drei Türen enthielten nur Namen ohne Berufsangabe.
Der Teufel mochte wissen, wo Clayton, steckte.
Jo zündete sich eine Zigarette an und überlegte. Nach Claytons Angaben war dieser Miller in die zwölfte Etage gefahren. Dann hatte der Juwelier telefoniert.
Wenn Clayton anschließend nach oben gefahren war, war es unwahrscheinlich, daß er wußte, in welchem Büro der Mann verschwunden war. Er hätte natürlich überall nachsehen können, aber das sah ihm nicht ähnlich.
Blieb die Möglichkeit, daß der Mann wieder aufgetaucht war, das Haus verlassen hatte und Clayton ihm gefolgt war.
Jo stieg wieder in den Lift und fuhr nach unten. Kommissar X war in New York bekannter als, mancher Filmstar. Gelegentlich hatte das seine Vorteile, aber meistens brachte es nur Ärger.
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