„Habt ihr meinen kleinen Bruder gefunden?“, fragte es altklug mit betretener Stimme und gerunzelter Stirn. Die Augen unter den feinen Augenbrauen waren tiefblau und ausdrucksvoll.
„Das ist nicht die Polizei, Schätzchen“, sagte die Frau und versuchte, das kleine Mädchen von der Tür wegzuziehen, aber Anne war in die Hocke gegangen und hatte die volle Aufmerksamkeit des Mädchens.
„Vielleicht können wir dabei helfen, deinen kleinen Bruder zu finden. Wenn wir im Fernsehen von ihm erzählen, kann sich vielleicht jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben.“
Die Frau zog das kleine Mädchen weg. Anne stand auf und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick.
„Wir bekommen genug Hilfe von der Polizei.“
„Vielleicht ist es eine gute Idee, das Fernsehen mit einzubeziehen“, unterbrach eine Stimme und eine junge, kräftige Frau mit wilden roten Haaren, die sie in einem buschigen Pferdeschwanz zu zähmen versuchte, kam heraus und reichte Anne die Hand.
„Ich heiße Karen und bin von der freiwilligen Organisation MCD, Missing Children Denmark. Wir helfen der Familie – und der Polizei natürlich – den kleinen Emil zu finden.“
„Ich habe von Missing People gehört, aber nicht Missing Children“, lächelte Anne und erwiderte den Händedruck.
Die Frau mit der Brille im Haar nahm das kleine Mädchen am Arm und zog sich einige Schritte zurück.
„Das ist auch eine relativ neue Organisation. Um verschwundene Kinder zu finden bedarf es anderer Werkzeuge als bei Erwachsenen. Ich habe zum Beispiel eine pädagogische Ausbildung und das ist ein großer Vorteil, um – ja, wie soll ich das ausdrücken -“ Karen schielte zu der Oma des verschwundenen Babys, die den ganzen Sermon sicher schon gehört hatte. „Ja, dass ich ein bisschen in den gleichen Bahnen denken kann wie das verschwundene Kind. Auf die Weise haben wir schon Kinder gefunden, die an Orten gelandet sind, die niemand vermutet hat.“
Anne sah zu Flash, der hinter ihr auf der Treppe immer noch von einem Bein aufs andere trat. Er hatte die Kamera nicht mitgenommen, da es wichtig war, vorher immer die Zustimmung der Betreffenden einzuholen. Ganz anders als damals, als sie bei der Zeitung gearbeitet hatte, wo fast das Gegenteil der Fall war. Dann wandte sie sich schnell wieder Karen zu.
„Dürfen wir Sie zu Ihrer Arbeit interviewen?“
Karen schaute zu der Frau, die immer noch mit dem Mädchen am Arm hinter ihr stand. Zögernd nickte sie. „Wenn Sie meinen, dass das helfen kann, meinen Enkel zu finden.“
Flash holte die Kamera und machte sie bereit, während Anne mit den anderen ins Wohnzimmer ging. Sie stoppte abrupt, als sie den geschmückten Esstisch mit hellblauen Tauben, kleinen Teddybären, Servietten und blauen Ballons passend zu denen im Garten sah. Es stand auch ein Foto von Emil auf dem Tisch. Er trug ein weißes Taufkleid und ein blaues Band mit seinem silbergestickten Namen. Er lag auf einem weißen Lammfell und sah ein wenig verdutzt aus.
„Emil wurde heute Vormittag getauft. Wir haben die Gäste nach Hause geschickt, als es passierte. Wenn sie ihn nur bald finden“, sagte die Großmutter resignierend, setzte das Mädchen auf dem Boden bei einigen Spielsachen ab und sich selbst an den Tisch neben eine dort sitzende Frau. Sie legte die Arme um ihre Schultern und drückte sie. Anne hatte keinerlei Zweifel, dass dies die Mutter der Kinder war. Es war so deutlich zu sehen an ihrem versteinerten, roten und geschwollenen Gesicht. Der Mann, der aus dem Fenster in den Garten starrte, musste der Vater sein. Er hatte sich nicht umgedreht, als sie hereingekommen waren, sondern stand nur da und starrte, als wartete er darauf, dass der, der seinen Sohn genommen hatte, bald mit ihm zurückkam.
Karen setzte sich an den Tisch den beiden Frauen gegenüber, wo schon eine hagere Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren, beinahe einem Bürstenschnitt, saß. Wie Karen trug sie ein Sweatshirt mit dem „Missing Children Denmark“-Logo auf dem Rücken.
„Emil wurde draußen zum Schlafen hingelegt, als die Familie von der Kirche kam. Jemand hat wohl vergessen, das Tor zu schließen, sodass es freien Zugang zum Garten gab“, teilte sie Anne mit.
„Wir waren nicht aufmerksam genug!“, ertönte es zornig vom Fenster. Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht wirkte älter, als Anne aufgrund der Frisur vermutet hatte. Oder vielleicht ließen auch die Umstände es so alt aussehen.
„Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, wie ich bereits sagte. Sie haben nichts falsch gemacht, sondern diejenigen, die auf die Idee kommen, ein Baby zu entführen“, sagte Karen mit sanfter Pädagogenstimme.
Der Mann kam eilig an den Tisch. Trotz seiner Machtlosigkeit wirkte er beinahe drohend.
„Ja, das sagen Sie! Aber wie habt ihr euch denn vorgestellt, ihn zu finden? Woher wisst ihr, wie Emil denkt? Und was bringt das? Er ist ja verdammt noch mal nicht selbst gelaufen, oder?“
„Nein, natürlich wissen wir nicht, wie Emil denkt, das ist klar. Bei größeren Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind, ist das selbstverständlich leichter, aber es ist nicht so einfach, mit einem Kinderwagen zu verschwinden. Wir werden ihn schon finden.“
„Peder, jetzt sei nicht so unhöflich. Sie wollen doch nur helfen“, bat seine Frau ebenso verzweifelt und streckte eine zitternde Hand nach ihm aus. Er nahm sie und setzte sich neben sie.
„Entschuldigung, Tara, aber …“ Er schüttelte vor Hoffnungslosigkeit den Kopf.
Flash war startklar mit der Kamera und Anne setzte sich neben Karen. Zum ersten Mal sah sie der Mutter des Babys in die Augen. Sie schauten sie betrübt und flehend an. „Was können Sie im Fernsehen senden, das unseren kleinen Emil wieder zu uns nach Hause bringt?“, fragte sie, und es war deutlich zu sehen, dass sie sich gewaltig zusammenriss, um nicht wieder zu weinen.
Karen ergriff sofort das Wort: „Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten. Wir können an den Entführer appellieren, indem wir zeigen, dass Emil ein geliebter und vermisster kleiner Junge ist. Vielleicht können Sie als Eltern direkt zu dem Entführer sprechen und ihn darum bitten, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.“
„Wirkt das nicht ein bisschen amerikanisch?“, fragte Peder skeptisch. „Wurden entführte Kinder je auf dieser Grundlage wieder zurückgebracht? Also außer in amerikanischen Filmen.“
Karen nickte überzeugt. „Es gibt mehrere Fälle. Zum Beispiel wurde mal ein Auto von einem Parkplatz gestohlen, wo der Dieb nicht wusste, dass ein Kind in einer Babyschale auf dem Rücksitz lag. Das Kind wurde zurückgebracht.“ Sie suchte nach weiteren Beispielen, aber offenbar fielen ihr gerade keine ein.
„Kann sein, dass der Dieb es nur auf den Kinderwagen abgesehen hat. Der war ja ganz neu, sagten Sie“, half die Frau mittleren Alters aus. „Vielleicht haben die gedacht, er sei leer, und wenn sie merken, dass ein kleines Kind drinliegt, kommen sie mit ihm zurück. Oder vielleicht finden wir Emil und den Kinderwagen irgendwo zurückgelassen …“
„Zurückgelassen …“, wiederholte Peder mit einem Ausdruck, als ob das Wort widerlich schmeckte.
„Sidse hat recht, das könnte sein“, pflichtete Karen bei.
„Hat die Polizei das andere entführte Baby gefunden?“, fragte Tara und wischte sich die Augen mit einer hellblauen Bärchen-Serviette trocken. Sie schaute wieder zu Anne.
Die schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Soviel wir wissen gibt es nichts Neues.“
„Kann es der gleiche Entführer sein?“, fragte Peder ängstlich. „Was will diese perverse Person mit unseren Kindern?“
„Sind Sie auch an diesem Fall dran?“, erkundigte Anne sich an die beiden von Missing Children gewandt.
Karen schüttelte den Kopf. „Die Familie hat unsere Hilfe nicht gewünscht, und dann greifen wir selbstverständlich nicht ein.“
Читать дальше