Jørgen Lindt schaltete den Projektor aus, und jemand zog die Vorhänge zurück, sodass das Tageslicht hineinströmte und die, die am nächsten an den Fenstern saßen, blendete. Lindt sah auf den Fragenden herab, der immer noch auf eine Antwort wartete.
„Sie fragen, wo sich die aufhalten, die mit Kampferfahrung zurück nach Hause gekommen sind? Leider geht man davon aus, dass mindestens die Hälfte in militant islamistische Milieus gehen, was eine größere Bedrohung ausmacht, da sie dort einen Sonderstatus erreichen können, der ausgenutzt werden kann, um Radikalisierung und Rekrutierung voranzutreiben. Aber wie gesagt behalten wir sie im Auge.“
„Aber war das dann nicht in Kopenhagen der Fall? Den Gerüchten in der Presse zufolge waren es ja zurückgekehrte Krieger, die die Bomben in den Bussen platziert haben.“
Jørgen Lindt räusperte sich und zog die Blicke auf sich.
„Die Ermittlungen des Vorfalls in Kopenhagen sind noch nicht abgeschlossen. Wir sind uns noch nicht vollständig darüber im Klaren, wer die Bomben gelegt hat und um welche Sprengstoffe es sich überhaupt handelt. Vielleicht war es ein Sprengstoffgürtel, aber wir haben noch nicht alle identifiziert und bisher keinen Täter gefunden. Aber ja, es handelte sich um professionell hergestellte Bomben, meinen unsere Experten.“
„Wie wurden sie in den Bussen platziert, die ja gerade Leute in Sicherheit bringen sollten?“, fragte eine andere barsche Stimme.
„Ich kann mich zu dem konkreten Fall nicht äußern. Wie gesagt sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.“
„Hat die erhöhte Terrorgefahr konkret in Aarhus etwas mit heimgekehrten Kriegern zu tun?“, fragte Anker Dahl. Die blonden Augenbrauen waren zusammengezogen, sodass sie ihm in Kombination mit dem harten, eisblauen Blick einen bestimmten, beinahe grimmigen Ausdruck verliehen.
Ein Stück vor ihm saß der Bürgermeister. Roland konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er vermutete, es war mindestens genauso verkniffen wie das des Vizepolizeidirektors. Sie überlegten sicher beide, wie sie das hier der Bevölkerung erklären sollten. Da hatten sie jede Gelegenheit in den Medien genutzt, hervorzuheben und zu betonen, dass die Situation vollständig unter Kontrolle war, dass es einen guten Dialog mit dem muslimischen Milieu und den Imamen gab, und jetzt das. Ein Terroranschlag wie der in Kopenhagen, mit zehn Toten und sechsmal so vielen Verletzten war vielleicht kurz davor, auch in ihrer Stadt Wirklichkeit zu werden. Die Gefahr eines Terroranschlags auf die Stadt war erhöht. Das Aarhuser Modell bröckelte. Falls die Aarhuser etwas erfahren sollten. Die Besprechung mit dem PET ging in aller Heimlichkeit vonstatten, eben genau damit die Presse nicht davon Wind bekam und das Ganze zu etwas aufbauschte, was es vielleicht überhaupt nicht war. Die Panik war ohnehin schon groß genug. Der Anschlag in Kopenhagen und das, was im Aarhuser Stadtbus passiert war, hatten die Titelseiten erobert und das Thema ersetzt, das bisher für längere Zeit die Schlagzeilen beherrscht hatte. Was war schon ein gestohlener Kinderwagen mit einem Baby gegen einen möglichen Terroranschlag in einem proppenvollen Stadtbus mitten im schlimmsten Berufsverkehr in Aarhus?
„Wir wissen noch nicht, was in dem Stadtbus passiert ist und ob überhaupt die Rede von einem versuchten Terroranschlag sein kann. Aber falls es sich als ein solcher herausstellt, ist es doch naheliegend zu glauben, dass es einen Zusammenhang mit dem gibt, der zur selben Zeit in Kopenhagen verübt wurde. Terroranschläge und Angriffspläne in Europa wurden in den vergangenen Jahren typischerweise von ein bis zwei Personen ohne Erfahrung aus einem Kampfgebiet durchgeführt, die aus eigener Initiative planen, ein symbolträchtiges Ziel mit Schusswaffen anzugreifen. Aber jetzt haben wir ja in letzter Zeit gesehen, dass es Kapazitäten in Dänemark gibt, Terroranschläge mit leicht zugänglichen Waffen wie Stichwaffen, Brandbomben und selbst gemachten Bomben durchzuführen.“
Lindt setzte sich an den Tisch, der vor denen der anderen stand. Daran saß bereits John Stadil, Sektionschef für Terroranalyse beim FE, dem Militärischen Abschirmdienst. Er war während Jørgen Lindts Vortrag schweigsam gewesen und Roland dachte darüber nach, ob er aufgrund seiner militanten Erscheinung hier war, die ihn zu einer guten Rückendeckung machte, oder ob es für seine Anwesenheit in Wirklichkeit einen anderen Grund gab. Er wusste, dass der FE eng mit dem PET an den aktuellen Fällen zusammenarbeitete. Lindt schenkte Kaffee in seine Tasse ein.
„Die Anschläge können spontan oder nach nur kurzer Planungszeit durchgeführt werden. Quellen besagen jedoch, dass etwas Größeres und weitaus Professionelleres im Anzug ist und bald Dänemarks drei größte Städte, Kopenhagen, Odense und Aarhus treffen soll, vielleicht gleichzeitig“, fuhr er fort und stellte die Thermoskanne zurück auf den Tisch. „Ob das, was wir gesehen haben, nur ein einzelner Anschlag oder der Beginn von etwas Größerem war, ist eines der Dinge, die der PET untersucht.“
„Was ist mit chemischen Waffen?“, fragte der Bürgermeister.
„Es gibt Personen, die die Möglichkeit haben, simple Angriffe mit chemischen Stoffen auszuführen, das gilt auch für biologische. Die kann man ja leicht im Internet erwerben. Wir vermuten jedoch, dass Terrorgruppen nicht die Kapazität haben, Anschläge mit radioaktivem oder nuklearem Material in Dänemark durchzuführen.“ Es war John Stadil, der antwortete. Er saß unbeweglich in der gleichen Haltung wie die ganze Zeit. Wie aus Stein gemeißelt.
Eine heisere Stimme ganz hinten im Raum räusperte sich. Roland drehte sich um. Ein junger Mann mit dünnem, rötlichem Spitzbart und rotkariertem Holzfällerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln hatte sich gemeldet, als ob er auf der Schulbank säße. Was sie im Augenblick selbstverständlich alle taten. Ein Lederarmband baumelte locker um sein Handgelenk.
„Sie haben vorhin erwähnt, dass fundamentalistische Milieus in steigendem Grad soziale Medien nutzen und gute IT-Kenntnisse haben. Ist unsere IT- und Telefoninfrastruktur in Gefahr? Ein Hackerangriff kann gesellschaftliche Konsequenzen für Dänemark haben.“
Der junge Mann war für eine ganz neu geschaffene Stelle als IT-Experte im Polizeipräsidium angestellt worden, kurz bevor Roland von dort weggegangen war. Es war eine klare Frage ausgerechnet von demjenigen, der im Nationalen Cyber Crime Center, kurz NC3, arbeitete. Sie beschäftigten sich mit Cyberkriminalität und waren eine Einheit der Reichspolizei. Es waren mehrere neue Stellen eingerichtet worden, als beschlossen worden war, dass aufgrund der ständig steigenden IT-Kriminalität jeder Polizeibezirk seinen eigenen lokalen IT-Experten haben sollte. Roland überlegte, ob der junge Mann früher wohl Hacker von Beruf gewesen war. Diese Art Leute brauchte die Polizei am allermeisten. Jemanden, der das Milieu kannte.
„Auch wenn militante islamistische Gruppen versuchen, sich Cyberkapazitäten anzueignen, gehen wir nicht davon aus, dass es Dänemark treffen wird“, beteuerte Jørgen Lindt und sah schnell nach unten, um aus seiner Kaffeetasse zu trinken.
Roland schielte wieder zu Viktor Enevoldsen. Wie konnte sich der PET da so sicher sein nach dem Skandal mit dem größten Hackerfall in der Geschichte Dänemarks letztes Jahr, wo das IT-System der staatlichen Polizei gehackt worden war, was Zugang zu Tausenden von Passwörtern und Login-Daten von Polizisten und den Informationen des Schengen-Systems über gesuchte Personen ermöglicht hatte. Doch Viktor verzog immer noch keine Miene. Eine Weile war es wieder still.
„Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte?“, unterbrach Anker Dahl das gleichmäßige Summen der Lüftungsanlage.
„Wir haben einen Namen, aber ob es eine Person, eine Terrorzelle oder etwas völlig anderes ist, konnten wir leider noch nicht ermitteln. Es wird über ein geheimes Netzwerk kommuniziert. Der Name ist SAQR, und beim PET tun wir natürlich, was wir können, um herauszufinden, welche Verbindung zwischen dem Namen und der erhöhten Terrorgefahr besteht. Hierbei können alle Behörden behilflich sein. Wir wollen Sie jedoch alle bitten, aufmerksam zu sein und uns zu informieren, wenn Sie etwas Verdächtiges beobachten. Wir haben Maulwürfe im Milieu, und falls Sie ohne unser Wissen eingreifen, kann das die gesamte Operation gefährden.“
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