„Wir müssen das hier also ernst nehmen?“, fragte der Bürgermeister.
Jørgen Lindt nickte. „Leider. Wir haben ja bereits gesehen, wozu die Terroristen imstande sind.“
Der Bürgermeister begegnete Anker Dahls Blick und man konnte deutlich die Panik in seinen Augen erkennen.
Roland wollte aufstehen, da die Besprechung vorbei war und die anderen den Raum verließen, aber Viktor Enevoldsen legte eine Hand auf seinen Oberarm und hielt ihn zurück.
„Warte einen Moment, Roland“, flüsterte er und blieb selbst sitzen. Roland setzte sich verwundert.
Als alle anderen draußen waren, schloss Jørgen Lindt die Tür und bat sie, sich oben an den Tisch vor der Leinwand zu setzen, wo auch John Stadil, Thor Dam und Anker Dahl Platz nahmen.
„Na, das ist also der Mann deines Vertrauens“, stellte Lindt fest und reichte Roland die Hand. Stadil tat es ihm gleich. Er erwiderte die schnellen, festen Händedrücke und sah Anker Dahl fragend an, der ihm lediglich ein reserviertes Nicken schenkte.
Lindt setzte sich ihm gegenüber und leitete mit einer kurzen Pause ein, in der er aus seiner Kaffeetasse trank.„Im Lichte dessen, was in Kopenhagen passiert ist, müssen wir abteilungsübergreifend eng zusammenarbeiten. Die Unabhängige Polizeibehörde bekommt einen Sonderauftrag, der selbstverständlich äußerster Geheimhaltung unterliegt. Während der Terroranschläge in Kopenhagen haben zwei Beamte die Passagiere nach draußen in die Busse dirigiert. Niemand, weder bei der Polizei noch bei der Gemeinde, weiß von der Aktion, und die betreffenden Beamten haben wir anschließend nicht identifizieren können.“
„Vielleicht waren es falsche Beamte?“, schlug Roland vor.Lindt nickte und kratzte sich über dem Krawattenknoten am Hals.
„Das ist, was wir herausfinden müssen.“
„Das Busunternehmen muss doch wissen, wer sie angeheuert hat, um bei der Evakuierung zu helfen“, meinte Viktor Enevoldsen.
Jørgen Lindt zuckte bedauernd die Schultern.
„Keiner weiß davon. Wir untersuchen, wo die Busse hergekommen sind. Sie sind natürlich durch die Explosion beide sehr zerstört, aber die Rede ist von Touristenbussen älteren Modells mit Platz für ungefähr 53 Personen pro Bus. Glücklicherweise war keiner der Busse ganz voll. Sie haben wahrscheinlich zum Verkauf gestanden, nachdem sie beim TÜV beanstandet worden waren. Wer sie gekauft hat und von wem wird immer noch untersucht. Aber dass Polizisten – echte oder falsche – vor Ort waren und den Leuten in die Busse halfen, hat dazu beigetragen, dass mehrere sich freiwillig in den Tod haben transportieren lassen.“
Roland und Viktor Enevoldsen sahen sich lange an.
„Ja, Sie verstehen wohl, wie wichtig es ist, dass das nicht in die Medien kommt, solange wir nicht mehr wissen. Wenn niemand mehr wagt, der Polizei zu trauen, dann …“
Roland wurde an den Albtraum Norwegens im Sommer auf Utøya erinnert, wo der Täter eine Polizeiuniform getragen hatte, um Zugang zu der Insel zu erhalten, dicht an seine Opfer heranzukommen und es geschafft hatte, 69 unschuldige junge Menschen zu töten. Wenn es gang und gäbe wurde, Polizeiuniformen für Terror zu benutzen, würde das sowohl die Polizei als auch die Bevölkerung in ein fürchterliches Dilemma bringen.
„Aber wieso einige verhältnismäßig wenige Menschen in Busse führen und sie in die Luft jagen statt direkt in den Bahnhof zu gehen?“, fragte Anker Dahl.
„Gute Frage. Es ist ja jetzt nicht zur Stoßzeit am Hauptbahnhof passiert, aber mein Tipp ist, dass uns die Terroristen zeigen wollen, welche Macht sie haben. Sie haben es nicht eilig. Nächstes Mal wird es vielleicht direkt der Bahnhof oder der Flughafen sein. In Kopenhagen gibt es viele Ziele. Die Bombenexplosionen haben Schäden in Millionenhöhe verursacht. In den umliegenden Gebäuden auf der Kalvebod Brücke wurden mehrere Scheiben eingedrückt und es gab – außer den Verletzten und Toten in den Bussen – auch mehrere Verletzte in den Autos in der Nähe und unter den Passanten.“
John Stadil nickte zu jedem von Jørgen Lindts Worten.
„Diese Bedrohung zu bekämpfen, erfordert eine enge Zusammenarbeit“, fügte er hinzu.
„Ich habe Jørgen Lindt aus dem Polizeipräsidium kommen sehen“, informierte Flash und setzte sich neben Anne mit einer Zwei-Liter-Flasche Coca-Cola Zero, die ihn laut anzischte, als er den Deckel abschraubte.
„Den vom PET?“, nuschelte Ninna. Sie kaute auf einem Stück Orange, die die ganze Redaktion mehr nach Weihnachten als nach Juli duften ließ. „Was macht der denn in Aarhus?“
„Das ist wohl nicht so verwunderlich, dass er hier ist, genau nachdem das im Stadtbus passiert ist.“ Anne schaute von ihrem Computerbildschirm auf.
Das Erlebnis, so dicht an den gesprengten Bussen in Kopenhagen gewesen zu sein und nicht zuletzt der Gedanke, dass sie selbst in einem davon hätte sitzen können, hatte sie längst noch nicht abgeschüttelt. Selbst am helllichten Tag verursachte es ihr Albträume.
„Es ist ja nicht mal sicher, dass das etwas war“, meinte Flash mit einem schiefen Grinsen.
„Aber jetzt haben sie Kopenhagen zweimal angegriffen, daher ist es wohl nicht ganz abwegig zu glauben, dass es Terror sein könnte“, nuschelte Ninna weiter mit einem herausfordernden Blick zu Flash und einem besorgten zu Anne, während sie mit dem Kugelschreiber auf den Block tippte, auf dem sie gerade mögliche Locations für die Aufnahmen des nächsten Programms Samstagsthemen aus Ostjütland notierte, das den Bürgermeister im Fokus hatte.
„Sie haben Kopenhagen einmal angegriffen, Ninna. Ein einziges Mal. Ansonsten hat Dänemark bisher noch keinen richtigen, koordinierten Terroranschlag erlebt. Das beim Kulturcafé Krudttønden und bei der Synagoge war vielleicht nur das Werk eines Verrückten.“ Flash trank direkt aus der Colaflasche. „Wir wissen es ja nicht, da der mutmaßliche Täter von der Polizei erschossen wurde – genau wie unser Busfahrer. Keine Terrororganisation hat die Verantwortung übernommen, normalerweise sind die ja sehr schnell damit, ihre schwarze Flagge zu zeigen.“
„Ja, auch wenn sie es überhaupt nicht waren, sondern nur einer ihrer sogenannten Soldaten und die Organisation vielleicht nichts damit zu tun hat. Furcht schafft Macht! Hast du herausgefunden, wer dich kontaktiert hat?“, fragte Ninna und schaute Anne neugierig an.
Ninna war an dem Tag, als sie nach Kopenhagen mussten, mit im Auto, als Anne angerufen wurde. Die Stimme war verzerrt gewesen, sie hatte nicht einmal hören können, ob es ein Mann oder eine Frau war.
„Ich habe nicht mehr erfahren, seit ich darüber informiert wurde, dass es gefährlich sei, in Aarhus Bus zu fahren und dass sich derjenige noch mal melden wollte.“
Annes Stimme und Unterlippe zitterten. Wenn sie an die jungen Menschen dachte, die in der Bahn am Klapptisch gesessen und einen Schlachtplan für die Demonstration – und die Zukunft – geschmiedet hatten, bekam sie solche Bauchschmerzen, dass sie es nicht aushalten konnte. Vier von ihnen waren unter den Toten.
„Das war doch bloß ein Freak, der sich interessant machen wollte!“ Ninna schüttelte verärgert den Kopf. „Das ist echt ein übler Scherz! Stell dir mal vor, wie viele Einheiten unnötig ausrücken, wenn jemand mit einer falschen Bombendrohung kommt. Solche Menschen sind komplett krank im Kopf.“
„Aber was, wenn es kein Scherz war? Die Verzerrung klang ziemlich professionell, da hat sich einer nicht nur die Nase zugehalten.“
„Was hat die Polizei zu der Warnung gesagt?“, fragte Flash, der sich bequem auf dem Stuhl zurücklehnte, die Hände im Nacken verschränkt und die Füße auf der Tischkante. „Denn du hast ihnen ja sicher Bescheid gegeben?“
Anne schubste unsanft seine Füße vom Tisch und nickte.
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