Diese Gedanken sind es, die sie ungeduldig und gereizt machen, als Helene zu ihr in die Küche kommt.
»Ich halte es nicht mehr aus, Julie«, sagt Helene. »Ich muss nach Hause, ich kann nicht mehr hier bleiben.«
»Was ist denn so schlimm daran, hier zu sein?«, fragt Julie scharf. »Denkst du gar nicht daran, was dir alles erspart geblieben ist? Du hast dein Zuhause behalten, Ivar ist wohlauf. Du solltest an die denken, die alles verloren haben«, sagt sie und ärgert sich im selben Moment über ihre Worte, als sie Helenes Gesicht sieht. Doch wie lange soll sie es denn hier aushalten und auf alle und alles Rücksicht nehmen? Sie ist so erschöpft, dass sie den Eindruck hat, ihr drehe sich alles, und sie entschuldigt sich vor sich selber damit, dass Helene es lernen muss zu begreifen, dass es noch andere gibt, die es schwer haben. Aber ein paar Tage später kommt Helene zu ihr und sagt ihr, sie habe von Ivar einen Brief bekommen. Er will, dass sie nun nach Hause kommt, während Selma noch bis auf weiteres bleiben soll.
An dem Tag, als Helene abreist, umarmt Julie sie. Sie steht da und spürt Helenes zierlichen Körper an ihrem mächtigen Leib, ihr Bauch ist der Umarmung fast im Wege. Helene reicht ihr knapp bis zum Kinn, ist zerbrechlich wie ein Vögelchen. Doch dass Kraft und ein starker Wille in ihr stecken, hat sie schon mehr als einmal bewiesen. Seitdem feststand, dass sie abreist, hat sie die wohl bekannte Ruhe, durch die sie sich immer auszeichnete, wiedergewonnen. Jetzt gibt sie Julie die Hand.
»Danke, Julie, für alles, was du getan hast. Danke, dass du mich aufgenommen hast«, sagt sie gefasst.
»Das fehlte gerade noch«, sagt Julie betreten. »Du hast solchen Mut bewiesen, Helene, mach nur weiter so.«
Ein leichtes Lächeln streicht über Helenes Gesicht, bevor sie sich umdreht und geht.
Julie hat von ihren Eltern ein Telegramm bekommen, dass mit ihnen und allen Angehörigen in Romsdalen alles in Ordnung ist. Sie hat selber ein Telegramm zurückgeschickt und ihnen einen Brief geschrieben. Um sie muss sie sich also vorläufig keine Sorgen machen. Sie schreibt an Krister und beschwört ihn, nach Hause zu kommen. Was habe er dort jetzt noch zu tun, wo, wie sie wisse, jeder Unterricht in den Schulen der Stadt ausgesetzt sei? Doch in seinem Antwortbrief schreibt er, dass er bleiben müsse, wo er sei. Jeder einzelne Mann werde bei den Aufräumungsarbeiten gebraucht, schreibt er. Das bringt Jørgen in Rage: Krister müsse nach Hause kommen, und wenn er in die Stadt fahren und ihn eigenhändig herschleppen müsse.
»Was bildet er sich denn ein, dieser Bursche?«, donnert er. »Hält er sich für so unabkömmlich, dass er sich nach allem, was passiert ist, nicht einmal Zeit nimmt, zu einem Besuch nach Hause zu kommen?«
Julie war unendlich dankbar, dass Krister das Ganze, ohne Schaden zu nehmen, überstanden hat. Es geht das Gerücht, dass ein Jugendlicher bei Löscharbeiten umkam, als er von einem einstürzenden Schornstein getroffen wurde. Etwas Ähnliches könnte genauso gut Krister treffen, sie hat ihn vor Augen, draufgängerisch und unbekümmert, und sie wundert sich darüber, dass er nach allem, was er durchgemacht hat, nicht das Bedürfnis verspürt, nach Hause zu kommen. Ob es das Mädchen ist, von dem Randi erzählt hat, das ihn in der Stadt zurückhält?
»Es sieht alles danach aus, dass er ein richtiger Frauenheld wird, dein Sohn«, sagte sie.
Es ist ihr schon selber aufgefallen, wenn es hier im Ort Veranstaltungen gab, dass ihm die Mädchen Blicke zuwarfen, auch ältere, doch das hatte sie stolz gemacht. Noch ist er viel zu jung, um mit einer fest zu gehen, wie die jungen Leute das nennen.
»Sie sind doch noch jung«, hatte Randi zu ihr gesagt. »Du darfst nicht so streng sein, Julie, gönn deinem Kind doch ein bisschen Vergnügen in der Jugendzeit. Auch wenn Krister mit einem Mädchen auf Vanndamman spazieren geht und ein bisschen mit ihr schmust, das ist doch keine Katastrophe, finde ich. Du solltest nicht vergessen, dass du auch einmal jung warst.«
»Aber alleine sind wir damals nicht zusammen gewesen und nicht in aller Öffentlichkeit an der Hand eines Jungen gegangen, bevor es nicht etwas Ernstes war«, sagte Julie verbittert.
»Die Zeiten haben sich geändert. Damit müssen wir uns abfinden, wir alle.«
Sie selber? Sie war bestimmt auch nicht viel älter als siebzehn, als sie und Ingebrikt eine Art Liebespaar waren. Aber Ingebrikt war drei Jahre älter als sie, erwachsen kam er ihr damals vor, kein Knabe, der noch nicht einmal siebzehn war so wie Krister. Außerdem gab es zwischen ihnen nie mehr als Händchenhalten, höchstens dass sie sich ab und zu mal ein Küsschen stahlen. Abgesehen von dem einen fürchterlichen Zwischenfall, als er sich fast an ihr vergangen hätte. Das ist ein Erlebnis, an das sie sich nur selten zu erinnern wagt, doch es passierte, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Nein, sie ist nicht sehr glücklich darüber, sie wird mit Krister, wenn er nach Hause kommt, ein ernstes Wort darüber reden. Denn noch hat er ihr immer fast alles anvertraut.
Die Zeitungen, die in Kristiansund erscheinen, kommen nicht mehr. Dem Radio oder anderen Informationen können sie nicht trauen. Die Wenigen im Ort, die den »Anzeiger« aus Trondheim halten, lesen in der Ausgabe vom sechsten Mai Berichte über die Bombardierung von Kristiansund und anderen Städten in Møre. Der größte Teil Kristiansunds sei niedergebrannt, steht dort zu lesen. Deutsche Flugzeuge hätten den Hafen, der voller britischer Schiffe lag, bombardiert. Danach hätten »die Engländer die Stadt in Brand gesteckt, bevor sie sich davonmachten«. Empört über diese lügenhaften Darstellung begreifen die Leute, dass sie weder der Zeitung noch anderen Informationen trauen können. Der »Pressedienst der Okkupanten« hat also auch Trondheim im Griff.
Alle möglichen Gerüchte machen die Runde, niemand weiß, wem er vertrauen, worauf er sich verlassen kann. Einwohner aus der Stadt erzählten von dem selbstlosen Einsatz der Leute, die aus dem Umland kamen und bei Aufräumungsarbeiten halfen, und zwar während des Bombardements und danach. Nicht weniger wurden die Bootseigner gelobt, die für die Evakuierung aus der Stadt sorgten. Allerdings waren auch andere zur Stelle, die weniger erwünscht waren, die andere Absichten verfolgten. Dasselbe traf auf die in der Stadt ohnehin vorhandenen lichtscheuen Elemente zu. Leute, die die Situation ausnutzten, um in Geschäften und in privaten Häusern zu stehlen. Es wird erzählt, dass viele gefasst und in den Arrest gesteckt wurden. Erzählt wird auch von Kaufleuten, die die Türen zu ihren Läden öffneten und Leute baten, sich mit Waren zu versorgen. Es würde doch alles nur verbrennen. Anständige Leute hätten sich zunächst geweigert, weil es ihnen wie Selbsthelfertum erschienen sei, bevor sie sich dazu entschließen konnten, der Aufforderung nachzukommen. Viele Gerüchte dieser Art machen die Runde, allmählich lernen die meisten Leute, sie mit Vorsicht zu genießen.
Jørgen meinte es ernst, als er sagte, er werde in die Stadt fahren, um Krister nach Hause zu holen. Am Donnerstag, dem neunten Mai, brach er auf. Das schöne Wetter, das während des gesamten Bombardements und ebenso die Woche danach geherrscht hatte, war jetzt umgeschlagen. Über Talgsjøen blies ein frischer Wind und grau stand der Regen vor den Bullaugen des Dampfers. Von Minen war die Rede, die gelegt worden seien, von Seeminen, die im Wasser trieben. Viele der Frauen saßen bleich und ängstlich da, die meisten jedoch nahmen es mit fatalistischer Ruhe hin. Es war etwas, an das sie sich gewöhnen mussten.
Der Anblick, der sich Jørgen bot, als er der Stadt mit dem Dampfer näher kam, war ein Schock für ihn. Schwarze Schornsteine, düster in den Himmel ragend, Reste von Fassaden und wacklige Mauern, die emporstiegen aus etwas, das auf den ersten Blick einer Geröllhalde glich. Er hatte gewusst, dass es kein schöner Anblick werden würde, der ihn hier erwartete, aber dass es so sein würde, das hatte er sich in seinen wildesten Phantasien nicht vorstellen können.
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