»Ich habe das schon so oft gelesen, dass ich es fast auswendig kann, aber es macht einen noch stärkeren Eindruck, wenn es laut vorgelesen wird.«
»Das ist starker Tobak«, sagt Randi. »Soll ich weiterlesen?«
»Ja, lies nur!«
»›Norweger! Die norwegischen und die deutschen Truppen beschützen gemeinschaftlich Ihr Heimatland. Lassen Sie sich nicht von verbrecherischen englischen Agenten, die Ihr Land zum Kriegsschauplatz machen wollen, aufwiegeln.‹ Hörst du das, Julie? Sie und Ihr, nun sind sie wohl plötzlich höflich geworden? › Legen Sie die Waffen ab! – Nehmen Sie die Arbeit wieder auf. Der Oberkommandierende gibt bekannt: Vor das Kriegsgericht wird gestellt, wer die von der vorigen Regierung erlassene Mobilisierung befolgt oder wer verleumderische Gerüchte verbreitet. Erschossen wird jede Zivilperson, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen wird. Erschossen wird, wer Anlagen zerstört, die dem Verkehr und dem Nachrichtenwesen dienen. Erschossen wird, wer kriegerische Mittel anwendet, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind. Norweger! Wer sein Vaterland wirklich liebt, nimmt die Arbeit wieder auf!‹
Erschossen wird, wer ..., erschossen wird, wer ...«, wiederholt Randi. »Hast du schon jemals eine solche Frechheit gehört? ›Die Anwendung von Kriegsmitteln, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind‹«, zitiert sie. »Genau das haben sie selber getan, als sie die Stadt dem Erdboden gleichgemacht haben, oder vielleicht nicht? Die verdammten Schweine! Was denken die denn von uns? Denken die, wir sind ein Volk von Feiglingen und Analphabeten? Denken die, wir lassen uns von einem solchen Schwachsinn beeindrucken? Soweit ich weiß, haben sie noch nicht überall gesiegt. Ich habe noch keinen Deutschen zu Gesicht bekommen, noch hat sich keiner blicken lassen, weder in der Stadt noch hier. Die sollen bloß nicht denken ...«
Da unterbricht sich Randi, sitzt da und starrt zur Tür. Julie dreht sich um und sieht, dass Helene in der Tür steht. Wie lange sie dort schon steht, wie viel sie mitgehört hat, wissen sie nicht. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie ihr Kommen nicht bemerkten. Die ganze letzte Zeit verhält sie sich schon so. Ruhelos wandert sie im Haus umher, lautlos auf den Zehenspitzen ihrer kleinen Ballettfüße. Manchmal zieht sie sich etwas über und geht zur Hauptstraße hoch, läuft ein paar Meter, bevor sie wieder zurückkommt. Wieder und wieder tut sie das, als ob ihr Körper von einer Unruhe erfüllt wäre, die sie nicht bezwingen kann. Seither haben sie Angst um sie, fürchten, dass sie krank wird, aber ihr Blick ist wach, nur diese Unruhe ist beängstigend.
»Entschuldigung. Ich störe bestimmt«, sagt sie jetzt und geht. Schließt die Tür hinter sich, nur ihre leichten, schwebenden Schritte durch das Wohnzimmer sind zu hören, bis eine weitere Tür zugeht.
»Armes Menschenkind«, sagt Randi. »So wie die Dinge jetzt liegen, kann sie einem nur Leid tun.«
Allmählich kehrt wieder der Alltag in den Ort ein. Ein neuer Alltag, ein anderer Alltag. Eines jedoch wissen sie, nichts kann wieder so werden, wie es vorher war.
Die Frühjahrsbestellung, die aufgeschoben wurde, muss erfolgen. Damit im Herbst geerntet werden kann, muss jetzt die Saat in die Erde. Jeder sagt zum anderen, das Leben gehe weiter. Es ist ja völlig sinnlos, die Welt anhalten zu wollen, auch wenn die Welt, wie es scheint, völlig aus den Fugen geraten ist.
Die Leute, die aus der Stadt hierher evakuiert wurden, müssen entscheiden, was sie mit ihrem Leben in der nächsten Zeit anfangen wollen. Viele von ihnen haben ihre Wohnung verloren. Es ist nichts mehr da, wohin sie zurückkehren könnten. Die Mütter mit Kindern ziehen es vor, hier noch eine Weile wohnen zu bleiben, bis die Situation in der Stadt so ist, dass sie zurückkönnen. Schulpflichtige Kinder wollen sie hier im Ort zur Schule schicken. Frau Solberg hat gefragt, ob sie auf dem Hof bleiben und ihre Kinder hier zu Schule schicken dürfe. Von ihrem Heim, einem Miethaus auf Gomalandet, ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Ihr Mann konnte bei Ivar ein Zimmer mieten. Es sei lediglich eine Notlösung, hat er gesagt, es gehe nicht an, dass sie dort mit den drei Kindern auch noch einziehe.
Randi will nach Hause. Yngvar hat angerufen und gesagt, er werde Bescheid geben, sobald er der Ansicht sei, sie könne die Reise wagen. Für einen kurzen Moment hatte Julie während des Gesprächs neben ihr gestanden, und so seine Worte zwangsläufig mitbekommen:
»Ich will nicht, dass du da bleibst. Sieh zu, dass du von diesen Leuten wegkommst, und zwar so schnell wie die Feuerwehr.«
»So ein Unsinn«, erwiderte Randi. »Was soll denn daran gefährlich sein?« Dann verstummte sie, lauschte.
»Ja, gut, Yngvar. Nein, ich verstehe, was du meinst.«
Sie wich Julies Blick aus, als sie den Hörer auflegte.
»Es ist wohl am besten, wenn wir zusehen, dass wir nach Hause kommen«, sagte sie. »Aber ich werde euch nie vergessen, dass ihr uns hier für diese Tage aufgenommen habt.«
»Aber du weißt doch, dass du hier so lange bleiben kannst, wie du willst?«
»Ach, nein, ich kann hier nicht noch länger müßig herumlungern. Außerdem hast du wohl schon genug Menschen im Hause, um die du dich kümmern musst. Aber schade, dass das Kind nicht mehr vor meiner Abreise zur Welt kommt und ich das Wunder nicht sehen kann. Doch das kommt noch, später. Die Geschenke, die Leckerbissen zur Geburt, die werden wir euch dieses Mal nicht schicken können«, sagt sie lachend. »Nein, Julie, jetzt müssen die Ärmel hochgekrempelt werden. Ich werde dort gebraucht, Yngvar braucht mich. Er hat schon eine Familie mit drei Kindern in die Wohnung aufgenommen. Es sind Leute, die wir kennen. Es wird eng, doch jetzt müssen wir anderen helfen, alles tun, was wir können, wo wir doch zu den Glücklichen gehören, die ihr Heim nicht verloren haben. Und ich kann Yngvar dort doch nicht mit allem allein lassen.«
Allmählich kommt der Liniendampferverkehr wieder in Gang und eines Morgens in aller Frühe begleitet Julie Randi und ihre Kinder zum Kai hinunter. Vorher war sie im Vorratshaus gewesen und hat etwas eingepackt, um es Randi mitzugeben. Bekümmert sieht sie, wie die Vorräte an diesen Tagen mit den vielen fremden Menschen im Hause zusammengeschmolzen sind. Doch sie hat von dem genommen, was ihr gehört. Synnøve besitzt eigene Vorräte in ihrer Ecke im Vorratshaus, wie das schon immer war.
»Das ist aber nun wirklich viel zu viel, doch mir bleibt nur, danke zu sagen. Ich habe keine Bedenken, dass es nicht gut gebraucht werden wird«, sagt Randi.
Julie graust es vor dem Abschied. Es war ein großer Trost für sie, Randi in dieser Zeit bei sich zu haben.
»Wir dürfen den Kontakt nicht abreißen lassen, Randi«, sagt Julie. »Und wenn es nötig wird, dann weißt du, dass du hier jederzeit willkommen bist.«
»Na, hoffentlich nicht.«
»Nein, weißt du, wir sollten uns unsere Freundschaft durch nichts kaputtmachen lassen, dafür bedeutet sie mir viel zu viel.«
»Oh, unsere Freundschaft hat im Verlaufe der Jahre so manch einen Stoß aushalten müssen. Sollten wir das nun nicht packen? Aber wir müssen wohl damit rechnen, dass wir uns jetzt seltener sehen als früher. Du weißt, es ist viel passiert.«
Ja, Julie weiß das, hat es in den Tagen, die Randi hier war, begriffen, und sie bleibt zurück und winkt ihnen mit einem unguten Gefühl voller Unbehagen im Bauch zum Abschied nach. Sie geht den Hang hinauf, langsam, muss oft anhalten, um sich auszuruhen, spürt die schwere Last von dem Kind in sich. Doch es ist mehr als das, es ist eine Last, für die es keine Worte gibt.
Zwischen den Familien Storvik und Thorsen hat es schon immer eine Kluft gegeben. Zwischen ihnen und ihren Leuten hier, aber mehr noch zwischen ihnen und der Familie Storvik in Kristiansund. Jetzt weiß sie, dass sich die Lage so verschlechtert hat, dass der Abstand unermesslich groß geworden ist. Das steckte hinter all dem, was Randi zum Abschied sagte. Jetzt sieht sie ein, dass Jørgen Recht hat. Ivar und seine Machenschaften zerstören doch mehr, als sie sich eingestehen wollte. Damit kann die Freundschaft zwischen ihr und Randi so stark belastet werden, dass sie zu zerbrechen droht. Doch daran darf sie gar nicht denken. Wen hat sie dann noch, dem sie sich anvertrauen kann? Und ihr geht durch den Kopf, dass sie sich über die Jahre hinweg zu abhängig von Randi gemacht hat.
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