»Aber du kannst doch hier bleiben, solange du möchtest«, sagt Julie hilflos. »Hier bist du in Sicherheit.«
»So wie die Dinge liegen, ist es für euch nun nicht gerade ein Vergnügen, mich hier im Hause zu haben«, sagt Helene und kann die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Nein«, sagt Julie empört. »Nein, so etwas darfst du nicht sagen. Du weißt, dass du hier immer willkommen bist.«
Noch einen weiteren Abend steht eine Menschengruppe auf dem Kirchberg und verfolgt die schlimme Tragödie, die sich dort hinten im Westen abspielt. An die Stelle der bisherigen Ungläubigkeit ist eher eine von Mutlosigkeit geprägte Resignation getreten.
»Nein, ich kann da nicht länger hinsehen«, sagt Randi. »Wir gehen nach Hause, Julie!«
Wie oft haben sie im Verlauf der Jahre nicht so beieinander gesessen, sie und Randi. Nächtelange Gespräche bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Meistens an Randis Küchentisch. So hatte es am besten gepasst. Randi hatte hier im Ort nie etwas zu tun, während Julie zwei-, dreimal im Jahr etwas in der Stadt zu besorgen hatte. Um einzukaufen, zum Zahnarzt zu gehen und um andere notwendige Dinge zu erledigen. Randi war nur wenige Male hier gewesen, aber erst als Julie und Jørgen den Hof übernommen hatten und die Schwiegereltern in das Altenteil gezogen waren, und auch dann war sie immer nur auf Kurzbesuche hier. Julie hatte gesehen, dass sie sich hier nie so richtig zurechtfand. Außerdem sei sie auch nicht der Typ, der aufs Land zu Besuch käme und die feine Dame aus der Stadt mimen könne, sagt sie. Doch es sind nicht wenige Sorgen und Freuden, die sie beide sich in langen Nächten am Küchentisch anvertraut haben.
Randi macht sich keine allzu großen Sorgen, dass Yngvar sich nicht durch die Ereignisse retten könnte, jedenfalls macht sie sich nicht mehr Sorgen, als unter diesen Umständen normal ist. Um Kari hat sie da schon mehr Angst. Sie ist so unbesonnen und ohne Furcht, glaubt, sie könnte fast alles in ihrer jugendlichen Art bewältigen. Sie hofft, dass es Yngvar gelingt, sie etwas zu bremsen. Nein, was ihr jetzt am meisten Sorgen bereite, ist, dass Yngvar nicht wisse, dass sie hier gelandet seien. Er denkt, sie seien in Richtung Molde gefahren, und wenn er erfährt, dass dort dieselbe Hölle ist, wird er es mit der Angst zu tun bekommen. Er wird auch nicht herausbekommen, welches Boot sie genommen haben. Es wimmelte dort von Schiffen, alles, vom Färinger Boot bis zu großen Kuttern. Das wird sie nie vergessen, wie Leute aus der Stadt, und nicht minder vom Lande, Boote bereitstellten und Flüchtlinge im Pendelverkehr aus der Stadt brachten.
Doch es hat nun mal keinen Sinn, sich Sorgen zu machen. Solange per Telefon und Telegraf kein Durchkommen ist, solange alle Verkehrsverbindungen unterbrochen sind, kann man nichts anderes tun, als nur warten.
»Und du, Julie, stell dir vor, du wirst bald wieder ein kleines Baby haben«, sagt Randi. »Das ist doch nicht schlecht, oder? Ich hätte selber auch gerne noch eins, doch wie es jetzt aussieht, ist wohl nicht daran zu denken. Außerdem bin ich inzwischen schon fast zu alt dafür.«
»Denkst du denn, es bereitet mir kein Kopfzerbrechen, dass ich in solchen Zeiten ein Kind in die Welt setze?«
»Doch, das kann ich mir schon denken. Ich habe mir die letzten Tage selber Sorgen gemacht, wie sich das, was wir durchgemacht haben, auf Martin auswirken wird, aber es hilft ja auch alles nichts, Julie. Und Kinder sind immer geboren worden, egal, wie die Welt ausgesehen hat. Mit den Großen ist es fast schlimmer. Wir wollen mal hoffen, dass das Ganze nicht so lange dauert, dass ihnen ihre Jugendzeit verdorben wird.«
Nicht nur Julie ist ehrgeizig, wenn es um die Zukunft der Kinder geht. Randi ist es genauso. Yngvar interessiert es zweifellos mehr, dass die Kinder wissen, welcher Klasse sie angehören und sich im Klassenkampf bewähren. Die drei Großen sind auch schon eifrige Sozialisten. Doch Yngvar war sich mit Randi immer darin einig, dass Bildung nichts schaden kann, auch wenn man der Arbeiterklasse angehört. Deshalb protestierte er erst gar nicht, als Randi sich dafür einsetzte, dass Hallvor auf das Gymnasium gehen sollte. Hallvor legte ein glänzendes Abitur ab, doch schließlich war sie es, die ihn dazu überredete, sich an der Technischen Hochschule zu bewerben. Sie war es auch, die Yngvar überreden konnte, obwohl er murrte, bei der Bank einen Kredit zur Finanzierung des Studiums aufzunehmen. Doch Hallvor ist sehr tüchtig. Er arbeitet so viel er kann nebenbei. Was allerdings am meisten in ihr bohrt, ist der Umstand, dass sie den größten Druck gemacht hat. Nach dem Abitur hatte der Junge eigentlich größere Lust, in einer Baufirma in der Stadt eine Lehre zu beginnen, als Zimmermann. Denn Hallvor ist ein heller Kopf, hat aber auch geschickte Hände, und am allerbesten gefalle es ihm, seine Hände für eine ordentliche Arbeit zu benutzen, wie er sagt. Das freut Yngvar natürlich. Doch er bewarb sich in Trondheim und wurde in der Fachrichtung Bau und Anlagenbau angenommen. Nach der Besetzung Trondheims hat sie von ihm einen Brief bekommen, in dem er schrieb, dass alles mit ihm in Ordnung sei. Mehr weiß sie nicht. Im Übrigen habe sie den Eindruck gewonnen, dass ein Mädchen mit im Spiele sei. Doch sollte Hallvor dort oben irgendetwas zustoßen, hätte sie das Gefühl, schuld daran zu sein, dass er dorthin gefahren sei.
»Genau das ist das Gefühl, das ich die letzten Tage hier wegen Krister habe, Randi. Weil ich es war, die ertrotzt hat, dass er in die Stadt ging, wo er in das Elend geraten ist, in dem er nun sitzt.«
»Ja, ich habe darüber nachgedacht, Julie. Obwohl wir so unterschiedliche Leben führen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, sind wir uns in vielerlei Hinsicht merkwürdig ähnlich. Oder sind wir das erst geworden, haben wir uns gegenseitig beeinflusst?«
Beide sind sie darauf bedacht, dass ihre Kinder eine Ausbildung bekommen. Randis Töchter haben die Mittelschule besucht. Solveig hat sie im Frühjahr beendet und hat eine Arbeit in einem Geschäft gefunden. Sie ist tüchtig, sagt Randi, sie spart das meiste, was sie verdient, weil sie im Herbst auf das Gymnasium will. Kari besucht die Handelsschule, nebenbei beschäftigt sie sich mit Sprachen. Das interessiert sie sehr. Seit dem Herbst hat sie im Grand Hotel an der Rezeption gearbeitet. Damit ist nun jedoch Schluss, denn das Grand Hotel gibt es nicht mehr. Und es gibt keine Zeitungsredaktion mehr, in die Yngvar gehen könnte.
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht«, sagt Julie. »Wie wollt ihr denn zurechtkommen, wenn alles vorüber ist?«
»Nein, ich bin jetzt nicht in der Lage, darüber nachzudenken, jetzt nicht. Denn eines habe ich dieser Tage gelernt. Hat man das Leben gerettet, hat man alles gerettet.«
»Wie ist es, hat sich Krister manchmal blicken lassen, bevor es losging?«
»Ja, ab und zu ist er bei uns zu Hause gewesen, der Junge hat allerdings viel zu tun. Außerdem habe ich ihn mit einem Mädchen gesehen. Das schien mir ziemlich leidenschaftlich zu sein.«
»Ein Mädchen?«, sagt Julie. »Er ist doch noch ein Kind.«
»Wieso erschrickst du denn so darüber?«, fragt Randi lachend. »Er ist ein flotter Bursche und für sein Alter richtig erwachsen. Du musst verstehen, dass er halt angefangen hat, nach Mädchen zu sehen. Du kannst doch nicht so naiv sein. Wir leben jetzt in einer anderen Zeit, als wir jung waren, war alles anders, verstehst du.«
»Was war das denn für ein Mädchen?«, möchte Julie wissen, doch bevor Randi ihr antworten kann, steht Jørgen in der Tür, und die Unterhaltung ist beendet.
Mittwoch, der erste Mai, bricht mit demselben strahlenden Wetter an, allerdings auch mit denselben düsteren Zeichen, dass die Stadt noch weiterhin unter Beschuss liegt.
Im Volkshaus in Øra soll es eine Veranstaltung geben. Ein Umzug ist nicht geplant. Das wagen die Leute nun doch nicht. Es wäre für die Flugzeuge, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel auftauchen können, zu sehr wie eine offene Zielscheibe.
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