Ich falte den Brief auseinander. Natürlich wird Helmut zuerst erwähnt, er ist ja auch der Älteste. Franz macht da eine Ausnahme und setzt mich immer an die erste Stelle. Ich weiß nicht warum. Nach der Reihenfolge des Alphabets ist das nicht korrekt. Sie stellt die Dinge gern auf den Kopf. Manchmal schreibt sie mir persönlich, genauso wie meine Eltern; ich habe doch trotz allem mehr Zeit als Helmuth, mich der Korrespondenz zu widmen. Ob er überhaupt mal nach Hause schreibt, weiß ich nicht. Für gewöhnlich notiert er auf der Rückseite der Umschläge, die er mir gibt: Ich rechne damit, dass du zurückschreibst und Grüße von mir bestellst. Diesmal steht gar nichts da, wir werden sie ja schließlich bald sehen.
Der Brief ist lang und im Plauderton gehalten. Andreas achtundvierzigster Geburtstag verlief nicht anders als die vorangegangenen Geburtstage auch. So ist es gewesen, seit ich denken kann. Der Höhepunkt des Tages ist erreicht, wenn sich alle, unter der Führung meines Vaters, in Richtung Fjord begeben, um den ersten Kiebitz des Jahres zu begrüßen. So war es von Kindesbeinen an ...
Mein Vater weiht die Sommersaison mit seinem Panamahut ein, der mit seinem schwarzen Band fast so aussieht wie der meiner Mutter. Er hat das Geburtstagskind untergefasst; ich laufe fröstelnd neben ihnen her und trage einen Matrosenanzug, den wir in einem Kellergeschäft am Holmens Kanal für den Sommer erstanden haben.
Sie berichtet von den Vorbereitungen zur goldenen Hochzeit: Es wird ein einfaches Mittagessen für wenige Gäste geben. Vater und Mutter wollen im Grunde keinen großen Aufwand. Erinnerst du dich, schreibt sie, an ihre silberne Hochzeit? Damals hatten wir noch allen Grund zu feiern.
Danach geht es um die Gesundheit im Allgemeinen und im Besonderen darum, dass Franciska sich als Dichterin nicht anerkannt fühlt. Schließlich schreibt sie von Vidde, von der alle auf Willhofsgave glauben, dass sie bald ihre Augen zum letzten Mal schließen wird, nachdem sie 49 Jahre lang im Kreis der Familie gelebt hat.
Zu Weihnachten hatte sie einen Herzanfall – «eine Hummerschere um mein Herz», wie sie sich ausdrückte. Ich ging zu ihr hinunter, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Sie blickte verschmitzt zu mir auf und sagte: «Ein schönes Fiasko.» Bis zu meiner Abreise an Neujahr war sie wieder obenauf und thronte in ihrem Zimmer.
«Vidde ist verwirrt», teilt Gudrun mit. «Mutter kümmert sich selbst um sie, doch sie glaubt, es sei ihre eigene Mutter, die sie umsorgt. Sie spricht, besser gesagt, phantasiert von ihrem eigenen kleinen Jungen, doch ich weiß nicht, liebe Brüder, wen von euch sie damit meint. Darum müsst ihr euch schlagen.»
Das steht für mich völlig außer Frage. Wie kann Gudrun nur so dumm sein. In meinen Augen war Vidde gegenüber Helmuth immer ein wenig reserviert, obgleich er der unmittelbare Anlass war, dass sie ihr Leben an unsere Familie knüpfte. Er war bereits ein erwachsener Mann, bevor ich als Zeuge auf den Plan trat. Doch ich war noch nicht besonders alt, als ich begriff, dass Olaf die Ursache dafür war, dass sie Helmuth nicht leiden konnte. Ich glaube, sie war durch ihre pragmatische Veranlagung ganz einfach der Ansicht, solch ein bühnenerfahrener Charmeur sei für meine Schwestern nicht der geeignete Umgang. Später hat mir Vidde erzählt, sie habe sich darüber aufgeregt, dass er ihnen den Hof machte, ohne ernste Absichten zu verfolgen.
«Du erinnerst dich doch sicher daran, wie die jungen Herren im Sommer mit den Mädchen im Garten herumtollten, mit Kleinkalibergewehren auf Zielscheiben schossen, Krocket spielten oder die Sterne betrachteten. Alles sollte sehr romantisch sein. Die armen Mädchen waren über Helmuths und Olafs Aufmerksamkeit schier aus dem Häuschen. Doch wenn es dämmerte und man die schummrigen Gartenwege entlangschlenderte, kleiner Tyge, dann gingen die Freunde immer Schulter an Schulter, während die Mädchen sich paarweise an den Händen hielten. Jammerschade war das. Glaub mir, ich kenne mich aus mit enttäuschten Mädchenherzen.»
Es läutet an der Tür; ich lege den Brief hin ...
Anna Lovinda ist zur Haustür gegangen. Draußen steht ein Bote von der Kapelle. Ich bitte sie, ihn hereinzulassen.
Er überbringt einen Liederwunsch für die Beerdigung am Samstag: Bist du mutlos, lieber Freund mit einer neuen Melodie. Die Musik ist mir unbekannt, doch kenne ich Carl Nielsen gut genug, um zu ahnen, dass mir knifflige Hausaufgaben bevorstehen. Vermutlich muss ich das ganze Stück von As-Dur nach G-Dur transponieren, um es bewältigen zu können. In Gedanken mache ich mich schon auf den Weg zum Musikverlag, als der Bote mir die Noten überreicht.
«Es handelt sich um den Schiffsmakler Johan Hermann Schoubo. Der Herr Schiffsmakler hat es anscheinend selbst so verfügt», erklärt er bereitwillig.
«Danke, mein Freund, wie umsichtig von dem Verstorbenen.»
Ich wühle in meinen Taschen und finde ein Fünfundzwanzigöre-Stück für ihn. Er führt die Finger zum Gruß an seine Mütze, aber vergebens, denn die Mütze hält er in der Hand, dann macht er einen Diener und lässt sich von Anna Lovinda hinausbegleiten.
Ich stehe auf und lege die Noten auf den Flügel, bevor ich mich wieder dem Brief zuwende. Gudrun ist über Viddes Zustand betrübt. Ich merke ihren Zeilen an, dass sie den Tränen nahe ist. Es stimme sie traurig, schreibt sie, dass wir bei dem großen Ereignis, welches die goldene Hochzeit unserer Eltern darstelle, nicht vollzählig zugegen seien.
«Ich spüre, dass Vater und Mutter in diesen Tagen besonders viel an Edith und Charlotte denken. Im Moment scheint es so, als würden sie Tag für Tag älter werden, was sie natürlich auch tun, aber ihr versteht sicher, was ich meine.»
Sie wünscht uns eine gute Reise und hofft auf ein frohes Wiedersehen. Im Postskriptum fragt sie, ob wir uns daran erinnern, dass Vidde immer sagte: «Spar dir deine Tränen, bis du verheiratet bist.»
Das alternde Kindermädchen auf Willhofsgave, Mamsell Vidde, hatte trockene Augen, während alle anderen in Tränen ausbrachen, als ein hinzugerufener Professor aus Århus an einem der ersten Märztage des Jahres 1890 auf wissenschaftlicher Grundlage das bekräftigte, was Madame Johannesen bei ihrer obligatorischen Visite am fünften Tag nach der Geburt bereits bekannt gegeben hatte und was der Hofjägermeister und die Hofjägermeisterin – genau wie alle anderen, die den Neugeborenen gesehen hatten – bereits ahnten, wenn nicht wussten: Der Junge war missgestaltet.
Der Erbhof hatte, im Stile eines Fürstenhauses der Renaissance, seinen eigenen Zwerg hervorgebracht.
Obwohl sie der Familie enger verbunden war als jeder andere – abgesehen von denen, die alle Dinge des Hofs, ob tot oder lebendig, aus verständlichen Gründen als ihr Eigentum betrachteten –, vergoss Vidde über das Kind keine Tränen. Fürsorglich und ohne Umschweife nahm sie sich seiner an.
Als der lebhafte und zufriedene Neugeborene im Alter von drei Wochen seine Signale änderte und anfing, aus vollem Hals zu brüllen, sobald er nicht schlief oder trank, trug Vidde ihn, seine Breitseite ihrem Busen zugewandt, stundenlang spazieren, zuerst im Gebärzimmer, dann auch in anderen Räumen und schließlich durchs ganze Haus. Bei allen übrigen Kindern hatte man die Anweisung Professor Meyers befolgt: Man legte sie hin, nachdem sie trocken und satt waren, schloss die Tür und ließ sie schreien. Nach ein paar Tagen hörte das Schreien auf, genau wie Professor Meyer, Leiter des Geburtsstifts in Kopenhagen, es beobachtet hatte – eine Methode, die alle aufgeklärten Mütter und Kindermädchen seitdem mit Erfolg angewandt haben.
Da aber das Erscheinen des Kindes nach den ersten euphorischen Tagen die Mauern des Erbhofes von Weinen und Jammern widerhallen ließ, meinte Vidde, es sei für alle von Vorteil, in diesem Fall eine Ausnahme von Professor Meyers Prinzipien zu machen und die Tränen zu stillen, die unmittelbar zu stillen waren. Außerdem sei es sinnlos, den Jungen für ein Leben zu stählen, das, dem Professor zufolge, nur wenige Jahre dauern würde.
Читать дальше