Das ist meine aufrichtige Überzeugung. Hin und wieder denke ich daran, dass wir – Ellinor, Helmuth und ich, die so dicht beieinander wohnen – uns abwechselnd zum Abendessen einladen sollten, wobei Anna Lovinda gern mit am Tisch sitzen könnte. Vielleicht könnten wir auch Freunde hinzubitten und mit den anderen bekannt machen. Ich würde zum Beispiel einen Kollegen oder auch Juliane einladen und sie den anderen als Frau Hollesøe Hjorth vorstellen. Ich bin sicher, dass ihr das gefallen würde. Sie ist eine wertvolle Bekanntschaft in meinem kleinen Kreis von Vertrauten; wir sind per Du und nennen uns beim Vornamen.
Hirngespinste, leider sind das nichts als Hirngespinste. Ellinor hat selbst eine Haushaltshilfe und ihre eigenen Freunde unter den Malerkollegen. Helmuth lebt sein ganz eigenes Leben und würde den Vorschlag für unangebracht halten. Er und Ellinor pflegen keinen Umgang miteinander. Obwohl Helmuth, wie Anna Lovinda erzählte, zu Beginn des Jahres eine Einladung zur Vernissage auf Charlottenborg bekommen hat, wo Ellinor seit Jahren unzensiert ausstellt. Mich hatte sie vergessen, doch ich kann auf Vernissagen gut verzichten. Was mir von solchen Veranstaltungen besonders lebhaft in Erinnerung geblieben ist, sind die zahlreichen Ellbogen und Handtaschen, die unablässig in meinem Gesicht landen.
Ich habe die Ausstellung an einem friedlichen Freitagvormittag besucht und war enttäuscht. Mit ihren pompösen Gruppenbildnissen wird Ellinor ihrer künstlerischen Verantwortung nicht gerecht. Es scheint, als greife sie Hunderte von Jahren zurück. Die Historienmalerei der Romantik samt deren Rückschau auf eine großartige, idealisierte Vergangenheit ist nichts für eine begabte Porträtmalerin des 20. Jahrhunderts. Sie sollte sich an die Porträts halten, denn sie waren es – nicht zuletzt die ihrer Familienmitglieder –, die in den Ausstellungen als Privatbesitz gekennzeichnet waren und die ihr so oft halfen, die Zensur zu umgehen. Das werde ich sagen, sollte ich eines Tages nach meiner Meinung gefragt werden. Vielleicht sage ich es in jedem Fall, auch wenn ich nicht gefragt werde.
Ich lächele Anna Lovinda dankend an.
«Das erinnert mich daran, dass ich Sie bitten wollte, Helmuth nach seinem Reisetermin zu fragen. Sie können ihm ja sagen, dass wir anderen am Sonntag reisen ... mit dem Morgenzug, nicht wahr?»
«Ja, mit dem Morgenzug über Fünen, wie Fräulein Ellinor sagte.»
Anna Lovinda hat damit begonnen, das Geschirr auf das Tablett zu stellen. Ich möchte mit dem Brief gern allein sein, und sie möchte mit ihren Gedanken allein sein. Es bringt sie in Verlegenheit, sich bei jemandem aufzuhalten, der nach Jütland reisen möchte, obwohl wir dies ein paarmal im Jahr tun. Vielleicht wird sie auch darüber nachdenken, warum ich ausgerechnet heute so schön gespielt habe.
Für einen Augenblick hänge ich meinen Gedanken nach, während ich mit dem Brief in der Hand dasitze. Ich lächle bei der Vorstellung, Ellinor, Helmuth und ich könnten gemeinsam auf Willhofsgave eintreffen, obwohl ich fast sicher bin, dass Helmuth einen Grund finden wird, Samstag oder Montag zu reisen; die goldene Hochzeit findet erst am Mittwoch statt.
Abgesehen von den Malen, als wir mit einigen seiner Freunde das Schiff genommen haben, sind Helmuth und ich, glaube ich, niemals gemeinsam gereist. Er ist extrem eitel und findet offenbar nicht, dass ihm der halbe Meter, den er größer ist als ich, in meiner Gesellschaft zum Vorteil gereicht. Im Gegensatz zu Olaf scheint ihn meine Gegenwart zu irritieren, und er lässt sich nur selten mit mir in der Öffentlichkeit blicken.
Früher bin ich wiederholt krank gewesen: die Atemwege, das Mittelohr, die Bronchien – was mit meinem Körperbau und der Deformität meiner Knochen zusammenhängt. Doch seit ich in der Nordkapelle begonnen habe – und jetzt klopfe ich auf den Holztisch, dass die Teetasse tanzen würde, wenn Anna Lovinda sie noch nicht abgeräumt hätte –, habe ich keine Beschwerden mehr verspürt, die eine Pflege oder Behandlung über die wöchentliche Massage hinaus erforderlich gemacht hätten; nur ein wenig Rücken- oder Lendenschmerzen, die ich heute wesentlich besser wegstecke als früher.
Nachdem ich hier in der Stadt jahrelang in einer Pension gelebt habe, genauso wie vor dem Krieg in Leipzig und später in Stockholm, bewohnte ich jetzt ein Zimmer am Maglekildevej in relativer Nähe zum Rolighedsvej und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Asmussens Allee. Meine unnützen Studien gab ich allmählich auf und begann stattdessen eine Reihe einträglicher Tätigkeiten – als Klavierstimmer, Violin- und Klavierlehrer sowie als Aushilfe in der Kirche –, um nicht für alle Zeit auf die einförmigen Mahlzeiten meiner Wirtinnen angewiesen zu sein, sondern auch einmal ein gemütliches Restaurant besuchen zu können.
Sowohl Ellinor als auch Ebba, die inzwischen wieder zu Hause sind, damals aber am Bülowvej wohnten und als Bürokraft beim Weingroßhändler Therkildsen arbeiteten, standen mir in schwierigen Zeiten zur Seite, leisteten mir Gesellschaft und pflegten mich. Ellinor hat mir damals angeboten, zu ihr zu ziehen, aber das hätte ihr Leben und ihren Alltag zu sehr eingeschränkt. Außerdem machte mir die Vorstellung Angst, meine Hilflosigkeit könnte zunehmen, wenn ich mich dermaßen in Abhängigkeit begäbe.
Auch Helmuth saß ab und zu bei mir, spielte auf meinem alten Harmonium, sprach mit mir und unterstützte meinen Plan, die Organistenprüfung abzulegen. Er war damals in sehr schlechter Verfassung; es war unmittelbar nach dem Bruch mit Olaf. Ich glaube, er versuchte, den Verlust zu verarbeiten, indem er ihn mit mir teilte, obwohl er die Angelegenheit niemals direkt ansprach. Damals begriff ich, dass wir – meine Eltern, meine Schwestern und ich – uns gewaltig irrten, als wir glaubten, Olaf genauso stark und auf dieselbe Weise zu vermissen, wie es Helmuth tat. Ich spürte, dass sein Verlustgefühl einen ganz anderen, beinahe zersetzenden Charakter besaß. Helmuth wusste, dass Olaf nur zu mir eine gewisse Verbindung aufrechterhalten hatte, konnte sich aber nicht überwinden, direkt nach ihm zu fragen, und seine Hemmungen übertrugen sich insofern auf mich, als es auch mir unmöglich wurde, die Sprache auf Olaf zu bringen, obgleich ich spürte, dass es das Einzige war, woran er dachte. Ich glaube, das sind die stärksten Empfindungen, mit denen ich jemals Bekanntschaft gemacht habe; ich selbst habe nie etwas Vergleichbares erlebt.
Damals entdeckte ich zum ersten Mal die leidenschaftliche und passionierte Seite von Helmuth, und an der orientiere ich mich, weil er als einziges meiner Geschwister in der Lage war, eine dauerhafte Bindung zu einem Menschen außerhalb der Familie aufzubauen. Obwohl er mich zurückweist, erkenne ich doch seine Fähigkeit, einen anderen Menschen zu lieben.
Jahrelang habe ich die Einsamkeit als natürliche Begleiterscheinung meines Lebens akzeptiert. Jetzt halte ich Augen und Ohren offen. Mit Helmuth als Vorbild habe ich den festen Glauben gewonnen, dass meine Zeit kommen wird und die leidenschaftliche und passionierte Seite in mir kurz vor der Blüte steht. Helmuth existiert und ist mein Bruder, das ist alles, was zählt, also spielt es keine Rolle, dass er sich, physisch gesehen, meist außerhalb meiner Reichweite aufhält.
Gudruns hübsche Handschrift bringt mich zum Lächeln. Vielleicht ist es aber auch der Anblick unserer beider Namen – «An Helmuth und Tyge!» –, der mich beglückt. Die meisten Briefe von Zuhause sind an Helmuth adressiert und werden dann an mich weitergegeben, um Briefmarken zu sparen.
Ebba fängt immer so an wie Gudrun, wenngleich ihre routinierte Sekretärinnenhandschrift einen ziemlich unpersönlichen Eindruck macht. Andrea wendet sich stets ausschließlich an Helmuth, um dann im Postskriptum hinzuzufügen: «Der Brief ist auch für Tyge bestimmt.»
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