Das Boot legte an. Er bezahlte dem Fischer die zweihundert Colones, die sie vereinbart hatten, zögerte einen Augenblick, ob er nach dem Grund des langen Umwegs zur Insel fragen sollte, zuckte stattdessen die Schultern, bückte sich, hob seine beiden Taschen auf, trug sie über das morsche Brett, das als Laufplanke ausgelegt worden war, und bahnte sich hastig und mit klopfendem Herzen einen Weg durch die Schar johlender Kinder, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich neugierig um das Boot drängten.
Er ging über den Strand auf das Haus zu. Es war weiter weg, als er gedacht hatte. Die Hitze war drückend, nach kurzer Zeit schon klebten ihm die Kleider am Körper, das Atmen machte ihm Mühe, immer wieder mußte er stehenbleiben, um sich den Schweiß von der Stirn und aus den Augen zu wischen. Die Distanz, die er auf etwa fünfzig Meter geschätzt hatte, schien ihm auf einmal um ein Vielfaches länger zu sein. Er bog vom Strand ab und ging stattdessen dem Waldrand entlang, der Boden war hier von einer dichten Laubschicht bedeckt, fußknöcheltief watete er durch das dürre, braune, ledrige Laub. Es raschelte und knisterte bei jedem Schritt, wiederholt schreckte er zusammen, weil ein unerwartetes Geräusch aus dem Waldesinnern drang.
Er kam an Hütten vorbei, die von verdorrtem Gras, Gerümpel und rostigen Blechfässern umgeben waren, auf einem Hof spielten zwischen Putern und grauen Ferkeln einige nackte Kinder. Endlich lichtete sich das Grün, vor ihm lag ein kleiner, sonnenüberfluteter Platz, fast wie ein Marktplatz. Am anderen Ende stand ein niedriges, hellblaues Holzhaus mit einem staubigen Coca-Cola-Schild über der Tür, dies mußte der Laden sein, den Leonard erwähnt hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die Pension, ihr rotes Dach schimmerte dunkel zwischen den sattgrünen Palmwedeln.
Ein leichter Schwindel befiel ihn, und er sehnte sich danach, etwas zu trinken.
Die Pension war auf zwei Stockwerken angelegt. Sie war aus dunklem Holz gebaut, und die Loggia des oberen Stocks, die allem Anschein nach um das ganze Gebäude herumführte, bildete das Dach über der Veranda auf der Vorderseite, wo einige Stühle und Tische aufgestellt worden waren. Er ging auf die Veranda zu, schräg zwischen den Tischen hindurch, stieß die leichte Bambustüre auf und trat ein. Drinnen blieb er eine Weile reglos stehen. Vom starken Sonnenlicht draußen geblendet, konnte er im Halbdunkel zunächst nichts erkennen, obschon ein schwacher Lichtstrahl durch die halbgeschlossenen Fensterläden drang. Langsam gewöhnten sich seine Augen daran, und er sah, daß er sich in einem sehr kleinen Raum befand. Es war offensichtlich das Speisezimmer, einige Tische mit weißen, fleckigen Tischtüchern standen den Wänden entlang. Die Luft war dumpf und stickig, und über den stehengelassenen Tellern und Gläsern schwirrten die Fliegen. Irgendwo bellte ein Hund.
Im ersten Augenblick glaubte er, der Raum sei leer, aber dann sah er durch die Türöffnung am anderen Ende des Zimmers ein Mädchen. Es schien etwa zehn Jahre alt, sein schwarzer Zopf war so lang, daß er ihm bis zu den Hüften reichte, es wandte ihm den Rücken zu und spülte in einer Blechwanne Gläser, lautlos, wie in einer anderen Welt.
Beim Fenster, das auf den offenen Platz hinausging, stand ein abgeräumter Tisch. Dort setzte er sich hin. Er erwartete, das Mädchen würde auf ihn zukommen, um seine Bestellung aufzunehmen, aber es fuhr mit abgewandtem Rücken fort zu spülen, unbeteiligt, als hätte es sein Eintreten nie bemerkt. Nach einer Weile ging er zu ihm hin. Er berührte es leicht am Arm und gab ihm zu verstehen, daß er etwas trinken wolle. Erstaunt sah ihn das Mädchen an. Das Gesicht war auffallend kantig, und die Lippen waren dunkel und hatten schwarze Flecken. Es sah ihn so lange an, daß er zu zweifeln begann, ob es ihn verstanden hatte, aber dann nickte es, verschwand und kehrte gleich darauf mit einer Flasche Bier und einem Glas zurück. Als er die Flasche zum Tisch trug, zitterte seine Hand so sehr, daß das Glas gegen die Flasche klirrte.
Da Bier war lauwarm und zu süß. Dennoch trank er es gierig und mit großen Schlucken, während er die weiße Hitze draußen auf dem Platz in sich aufnahm, den Ochsen, der im Schatten einer Honigpalme döste, das kleine Bambushaus gleich daneben, die Stille. Über dem Bambushaus war eine riesige Baumkrone, voll von großen, roten Blüten, die in einem unsichtbaren Wind sanft hin und her wogten. Als ob sich ein Schwarm roter Vögel im Baum niedergelassen hätte.
Wieder mußte er an das erste Mal denken, als er Marjatta gesehen hatte.
Ein feuchtwarmer Julinachmittag. Er war am Abend zuvor nach Helsingfors gekommen, müde und bedrückt, nachdem er zwei Wochen lang in der Gegend von Kemijärvi herumgewandert war auf der Suche nach einer seltenen Art des Frauenschuhs. Stattdessen hatte er, obwohl bereits zwei Jahre seit dem Rückzug der Deutschen vergangen waren, überall die schlimmsten Spuren der Verheerung angetroffen: verwüstete Dörfer, zerstörte Kirchen und niedergebrannte Häuser. Er war mit fürchterlichen Kopfschmerzen erwacht, und da es Sonntag war, hatte er beschlossen, den Zoologischen Garten auf Högholmen zu besuchen. Auf dem Heimweg war sie ihm aufgefallen. Die Fähre hatte eben den Packhausquai passiert. Sonnenrauch lag über der Bucht, weit draußen, achteraus, die dunkelblauen Silhouetten der Inseln, wie schwere Vögel im Weiß – ein merkwürdig starkes Licht, in dem sich alle Konturen aufzulösen schienen. Das Bild des Leoparden hatte sich auf seiner Netzhaut eingeprägt, es roch nach Salzwasser, Rauch und sonnenwarmem Schiffslack. Auf der ölig grauen Wasseroberfläche die Reste von Gemüse und anderem Abfall. Der heisere Schrei der Möwen.
Sie hatte an der Reling gestanden, im Gegenlicht blinzelnd. Die Sonne war hervorgekommen und hatte auf ihrem dunklen Haar geleuchtet, die rechte, ihm zugewandte Wange hatte im Schatten gelegen. Und als es ihm gleich darauf gelungen war, ihren Blick einzufangen, hatte er sie unablässig betrachtet, das erste, was ihm auffiel, waren die Augen, sie hatten dieselbe blaßblaue Farbe, denselben milden, graublauen Ton, vage und auffordernd zugleich, wie die Augen seiner Mutter. Deshalb hatte es ihn auch nicht gewundert – sie hatten sich kurze Zeit später lachend gegenseitig die Stadt gezeigt: die pastellfarbenen Patrizierhäuser, den leeren Platz, die Domkirche mit ihrer mattglänzenden Kuppel – oder gar beunruhigt, daß ihr Bild von der Stadt, die sich vor ihnen ausbreitete, so anders als das seine war.
In diesem Augenblick hatte ihn die Tatsache, daß er sie nicht kannte, mit Zuversicht erfüllt: Er hatte die Wirbel des aufgewühlten, braunen Meeresgrunds betrachtet, die sich bis zum Steinquai ausdehnten, er hatte wahrgenommen, wie sich der Salzwasserduft mit dem Geruch nach Schlamm vermischte, und sich vorgebeugt und gefragt, ob sie hungrig sei.
Jetzt erhob er sich brüsk und schloß den Fensterladen ganz. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, sank auf den Stuhl zurück und leerte in einem Zug den Rest des Biers. Sah plötzlich, daß ganz hinten im Zimmer, im Dunkeln, halb von einem großen, braunen Schrank verdeckt, ein alter Mann saß, der mit einer Zeitung über dem Gesicht schlief und dessen magere Arme schlaff herunterhingen wie bei einem Toten. Wieder wurde ihm übel. Der süße, fade Geruch des Biers, die erstickende Hitze, das Halbdunkel: widerstandslos gab er nach.
Wie hatte sich seine Angst so steigern können? Seine Furcht, sich aufzulösen und zu verschwinden? So unerträglich, daß er keinen anderen Ausweg sah, als davonzulaufen? Obwohl er nichts mehr fürchtete, als sie zu verlieren. Er stieß das Glas weg und schloß die Augen: Am meisten, dachte er, haßte er vielleicht, daß er von ihr abhängig war. Er haßte diese Abhängigkeit, die – deutlich sah er das Bild vor Augen – sich von etwas Hellem und Starkem in etwas Blindes und Erbärmliches und Widerliches verwandelt hatte, das im Innersten seiner Seele herumkroch, wie die Neugeborenen jener Maus, die sein Vater damals hinter dem Komposthaufen vergraben hatte.
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