»Ich habe eine Geschichte für dich«, sagte ich zu dir, als du an dem Ecktisch neben dem alten Klavier Platz nahmst, Sonnenstrahlen fielen, reflektiert von der Fassade der benachbarten Schule, durch die hohen, schmalen Fenster in das Café. Du hast gelächelt und dein schwarzer, akkurat gestutzter Bart glänzte mit deinen Zähnen um die Wette. Es war unsere allererste Begegnung – ich sah dich durch die Glastür kommen und wusste sofort, dass du es warst. Ich kannte deine Fotos von der Dating-Seite. Als du das schummrige Café betratst, hüllte dich die Sonne in ein engelhaftes Licht.
Du wirktest überrascht, um nicht zu sagen baff. Später erfuhr ich, dass du dachtest, was für ein Idiot du wärst, dich mit diesem Fremden zu treffen. Dass ich auf die üblichen Begrüßungsfloskeln verzichtete, machte dich verlegen, fast ängstlich. Du bist schon immer unsicher geworden, wenn du deine Komfortzone verlassen hast.
»Klar, erzähl mir eine Geschichte«, hast du taktvoll erwidert und im Geist die Schritte gezählt, die du bis zur Tür brauchen würdest.
»Meine früheste Erinnerung ist«, begann ich, »wie ich auf dem Schoß meiner Großmutter saß. Sie hat mich gekitzelt und dabei mit dem Mund so grässliche Geräusche gemacht. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, aber ich weiß noch, dass ich aus vollem Herzen lachte.«
Eine Sekunde lang lag dieser Das kann doch nicht dein Ernst sein -Blick auf deinem Gesicht. Du wusstest nicht, wie du darauf reagieren solltest. Du wusstest nicht, was als Nächstes kommen würde. In der Hoffnung, dass dich ein Anruf vor einem Nachmittag mit diesem Freak retten würde, warfst du einen Blick auf dein Handy-Display.
»Weißt du, ich erzähle dir das, weil ich ein Geschichtenerzähler bin«, sagte ich. »Ich bin ein Fabulierer, ein Dichter, ein hakawati .«
Es dauerte einen Moment. Du schautest mir in die Augen, begannst zu lächeln und sagtest: »Dann erzähl mir eine Geschichte.«
Dieses Lächeln, dieses wunderschöne, intensive, unerträglich süße Lächeln, das sich durch die vielen Schutzschichten deiner Seele einen Weg bahnte, brachte mich dazu, dich zu bitten, mich auf den Berg Qasyun zu begleiten, brachte mich dazu, dich zu küssen, mich in dich zu verlieben, während wir durch eine Stadt fuhren, die im Krieg versank.
Für den Rest unserer gemeinsamen Zeit in Damaskus hast du zweimal pro Woche bei mir übernachtet und deiner Mutter irgendeine Lügengeschichte darüber aufgetischt, wo du bist. Du zogst meine Pyjamahose an, und sie passte wie angegossen. Wir spielten Karten mit meinem Mitbewohner und blieben viel zu lang auf. Wenn dein Bedürfnis nach sozialer Interaktion gestillt war, bekamst du immer diesen speziellen Gesichtsausdruck, den ich sofort registrierte. Ich zog dich am Arm und nahm dich mit in mein Schlafzimmer. Mein Mitbewohner stellte kichernd Vermutungen über unseren Wunsch nach Privatsphäre an. Dabei kuschelten wir den Großteil der Nacht nur, weil wir mitten in der Unterhaltung einschliefen.
Der Genuss des Morgenkaffees auf meinem Balkon wurde oft durch das Schreien und Brüllen von Armeeoffizieren und Polizisten gestört, die jemanden verfolgten, um ihn zu verhaften. Sie zerrten den Flüchtigen am Hemd zu Boden, während die Frauen aus seiner Familie, die vom Fenster aus zusahen, lauthals jammerten und sich ihre weißen Kopftücher fester ums Gesicht zogen. Der Gefangene wurde unter den Blicken der Schaulustigen, darunter auch du und ich, in den Kofferraum gestoßen, dann wurde der Deckel zugeklappt und das Auto fuhr davon. Als wir das erste Mal Zeugen einer solchen Szene wurden, schlug uns das Herz bis zum Hals, und wir versteckten uns zwei Stunden lang in meinem Schlafzimmer. Nach ein paar Verhaftungen gewöhnten wir uns an das Brüllen und Wehklagen, frühstückten einfach weiter und stellten das Radio an.
Ich weiß nicht mehr, wie oft wir um drei Uhr morgens aufwachten, weil es irgendwo am anderen Ende der Stadt knallte. Der Kriegslärm hallte durch die stillen Straßen, und wir schreckten in Panik aus dem Schlaf hoch und fühlten uns sehr verlassen. Eines Nachts hast du gewimmert, noch halb im Schlaf, aus dem Land der Träume gerissen, voller Sorge, die Explosionen könnten zu nah bei uns sein. Ich strich dir übers Haar und beruhigte dich. »Das ist ein Feuerwerk, das ist nur ein Feuerwerk«, flüsterte ich, und du schliefst wieder ein.
Einmal kam die Explosion dann tatsächlich aus nächster Nähe; sie erschütterte die Wohnung und weckte uns beide auf. Wir hatten das Gefühl, es sei direkt vor unserem Haus passiert. Danach knatterten Maschinengewehre auf den Straßen.
Auf allen vieren flüchteten wir aus dem ungeschützten Schlafzimmer ins fensterlose Badezimmer. Ich legte mich in die Badewanne und du legtest dich auf mich drauf. Deine Augen waren weit aufgerissen, sahen aus wie kleine weiße Untertassen. Zitternd kautest du auf deiner Lippe herum. »Mein Rücken tut weh«, sagtest du und zeigtest auf die Narbe an den oberen Rippen, die wie eine Verbrennung aussah. »Ich bin ja da«, flüsterte ich und zog dich enger an mich, bis das Knattern der Maschinengewehre zu einem undefinierbaren Geräusch verklungen war.
In jener Nacht in der Badewanne liebte ich dich, als würde ich Gedichte über die Schönheit von Damaskus rezitieren. Als Eröffnung weckte ich dein Begehren mit sinnlichen Berührungen, schlich mich in deine Welt wie die ersten Tropfen Sonnenlicht auf den Bergen von Damaskus. Ich überzog dein Gesicht mit den Farben des Sonnenaufgangs, als ich mit den Zähnen an deinen Ohrläppchen zog. Ich erkundete jeden Winkel deines Körpers wie ein verirrter Reisender, der durch die alten, verschlafenen Straßen der Stadt wandert, klopfte mit den Fingerspitzen an das Tor zu deiner Seele wie ein schüchterner Botenjunge an die Holztüren der alten Häuser in Sarouja, wenn er warmes Brot und Baladi-Käse bringt. Ich drehte dich herum und kitzelte deine Füße, und du lachtest wie ein Kind, das im al-Jalaa-Park mit dem dowikha fährt. Ich hauchte ein lustvolles Stöhnen in dein Ohr, gleich dem Seufzer einer alten Holzbrücke, die unter dem Gewicht der Seelen, die sie trägt, ächzt. Unsere Körper verschmolzen, und wir bewegten uns, als würden wir die sich schlängelnden Straßen an den Hängen von al-Muhadschirin hinauf- und hinuntergleiten. Ich drückte atemlose Küsse auf deine Stirn, während ich deinen Körper von meinem löste, übersät von Bissspuren und herrlich nass vor Schweiß.
In jener Nacht liebtest du mich, als wärst du eine Invasionsarmee in einem plötzlich aufgeflammten Krieg. Mit ruhiger Hand zogst du mich aus und schmiegtest deinen Kopf an meine Rippen. Du hieltest mir mit der Hand den Mund zu aus Angst vor lauschenden Nachbarn hinter den dünnen Wänden. Ich gab mich deinen Händen hin wie ein verängstigter Teenager, der in einen Abgrund des Schmerzes entführt wird. Wir rangen, kämpften, deine Zähne gruben sich in meine Haut, bis du mir endlich glorreich und blutig deine Seele offenbaren konntest. Du hast gestöhnt und das Stöhnen sofort unterdrückt, wie ein standhafter Häftling, der seinen Wärtern und Folterern den Sieg nicht gönnt. Als du in mich eindrangst, wurde ich stumm, als hätte mein gesamter Körper kapituliert. Ich klammerte mich an dich wie ein Ertrinkender. Schließlich wandtest du dich von mir ab, mit reumütigem Blick und Schuldgefühlen, die du nur mit dir selbst ausmachst. Außer Atem kehrte ich von einer Reise zu deinen innersten Gedanken zurück.
Als wir die Badezimmertür öffneten und zurück ins Bett gingen, war das Knattern der Maschinengewehre längst verklungen.
Nur in diesen Augenblicken konnten wir ganz wir selbst sein, nackt in den Armen des anderen, beinahe blind für die Welt um uns herum. Außerhalb meines Schlafzimmers mussten wir auf jeden Schritt und jede Geste achten, hatten Angst vor dem Krieg, Angst vor unseren Familien, Angst vor allem außer uns beiden.
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