Zum erstenmal sahen Jan und Julia einen Schuhplattler, bei dem sich die Burschen in wechselnden Sprungbewegungen im Takt der Musik mit der flachen Hand auf die Schuhsohlen und auf die Schenkel schlagen, den Bärentanz und den Watschentanz. Auch Engländer, Franzosen und Schweden wollten ihre eingenen Tänze zeigen. Sie pfiffen und sangen die Melodien und führten dazu die absonderlichsten Figuren auf. Jan und Julia kam es vor, als ob sie noch nie im Leben so viel gelacht hätten.
Am nächsten Vormittag lag auf dem Hauptpostamt ein Einschreibebrief für Julia. »Mein Ausweis!« jubelte sie.
Liebe Julia, schrieb die Mutter , ich habe deinen Ausweis zwar nicht im Schreibtisch, nicht im Schrank, nicht in deiner Schulmappe, nicht auf dem Schrank und nicht unter deinen Taschentüchern gefunden — er lag auf der Fensterbank in der Toilette! Du wirst sicher wissen, wie er dort hingekommen ist …
Julia wußte es, aber sie steckte die Nase in die Luft; als Jan sie auslachte …
Frohgemut wanderten Jan und Julia der italienischen Grenze zu.
Immer höher hinauf ging es, und immer heißer schien die Sonne. Die Zwillinge kamen ins Schnaufen und Schwitzen und entschlossen sich, beim nächsten Kilometerstein eine Rast einzulegen. Die Vorräte von zu Hause waren, so glaubten sie, schon lange aufgegessen, um so größer war die Freude, als Julia doch noch eine kleine Schachtel Keks und eine halbe Tafel Schokolade in ihrem Rucksack fand. Sie teilten sie redlich miteinander. Dann lief Jan zu dem Quellwasser zurück, das sie gerade entdeckt hatten, und schöpfte Wasser in seinen Aluminiumbecher. Er trank ihn leer, dann füllte er ihn wieder und brachte ihn seiner Schwester.
»Ich danke, Johann, Sie können gehen!« sagte Julia gnädig.
»Bei Ihnen piept’s wohl, Fräulein!« sagte Jan grinsend.
»Nichts Fräulein … signorina!«
»Signorina? Wieso?«
»Auf italienisch heißt Fräulein signorina, und Frau heißt signora, und Herr heißt signor, und bezahlen heißt pagare … non capisco heißt: ich verstehe nicht …«
»Mensch!« rief Jan ehrlich erstaunt. »Woher hast du das alles?«
»Köpfchen, Köpfchen! Wir hatten doch auch Italiener in der Jugendherberge, hast du das vergessen?«
»Und von denen hast du dir das beibringen lassen?«
»Genau! Sei froh, daß du deine Schwester hast …, ich weiß nicht, wie du dieses Unternehmen sonst überstehen würdest!«
»Gib bloß nicht so an!«
»Sei nur ja recht nett und höflich zu mir, verehrter Bruder, sonst bist du der Dumme! Du weißt ja nicht mal, daß es in der italienischen Sprache nur kleine Buchstaben gibt, höchstens bei Namen und wenn ein Satz beginnt …«
»Ist doch alles Quatsch mit Soße!« unterbrach Jan sie.
»Wozu muß man das wissen? Ich komme auch mit Deutsch in Italien aus!«
»Na, das wird sich rausstellen! Weißt du, was du bist, Jan?«
»Halt dich zurück, signorina!«
»Typisch! Kaum gehört, schon geklaut!«
Aber nicht lange dauerte es, dann waren die beiden schon wieder versöhnt und brachen einträchtig auf.
Mit flottem Tempo begannen sie weiter zu marschieren. Aber allmählich wurden ihre Schritte müder und langsamer. Endlos dehnte sich die Straße. Als Julia eine Stunde später wieder rasten wollte, hatte auch Jan nichts dagegen einzuwenden. Wieder ließen sie sich auf einem Kilometerstein nieder, Julia mit dem Blick nach Süden, Jan die Augen ins Tal hinunter gerichtet.
»Vorwärts mußt du schauen, Jan«, spöttelte Julia altklug, »nie zurück!«
»Wenn du mal zurückschauen würdest, würde es dir gleich besser gehen … jetzt sehe ich erst, was wir alles hinter uns gebracht haben!« erwiderte Jan.
»Si si, frater … das heißt zu deutsch: ja, ja, Bruder!«
»Du mit deinem blöden Italienisch!«
»Mein Italienisch mag blöd sein, ich bin es sicher nicht!« Julia erhob sich. »Ich glaube, mein großer Bruder, ich werde mich darum kümmern müssen, daß wir etwas schneller ins Land der Zitronen kommen!«
»Und wie willst du das anfangen, teure Schwester?«
»Ich werde ein Auto anhalten!«
»Und du glaubst, daß eines halten wird?«
»Abwarten!«
Vertrauensvoll winkte Julia zur Straße hinüber, aber alle huschten sie vorbei, die großen und die kleinen Personenautos, die Lastwagen und auch die Motorräder, alle hatten es eilig.
Jan lachte. »Hahaha … das sieht dir ähnlich! Schöne Autos, schnelle Autos, aber keine Autos für Jan und Julia!«
»Idiotenhäuptling!« sagte Julia verächtlich.
»Nur nicht frech werden, Kleine … paß lieber auf, wie man so etwas macht!«
Jan stellte sich auf die Fahrbahn, schwenkte die Arme nach allen Himmelsrichtungen, als wäre er ein Verkehrspolizist, aber dann mußte er mit einem Satz zur Seite springen, denn kein Auto hielt, sie hupten nur.
»Gemein!« rief er wütend.
Julia grinste. »Das hast du großartig gemacht, erhabener Bruder! Aber jetzt, bitte, verschwinde … leg dich in den nächsten Graben oder verdrück dich sonst wohin, jetzt werde ich dir mal was zeigen!«
Mit erhobenen Händen und einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen stand Julia allein am Straßenrand, und siehe da — das nächste Auto fuhr zwar weiter, und Julia war schon sehr enttäuscht — aber dann hielt es doch noch, und die Wagentür wurde geöffnet.
Julia lief vor, ein älterer Herr mit angegrautem Haar saß allein am Steuer.
»Ach, bitte«, zirpte sie, »wir sind schon so müde … könnten Sie uns nicht bis zur Grenze mitnehmen?«
»Nein, meine liebe junge Dame … ich habe nur deshalb gehalten, um mal ein ernsthaftes Wörtchen mit dir zu reden! Weißt du denn nicht, daß es sehr gefährlich ist, Autos anzuhalten? Hast du keine Angst?«
»Wovor soll ich denn Angst haben? Sie tun mir doch nichts!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ach, das sieht man doch … Sie haben so gute Augen!«
»Nun, der Schein trügt, mitnehmen werde ich dich jedenfalls nicht!«
»Aber ich bin doch so müde!«
»Wenn man müde ist, dann bleibt man zu Hause!«
»Wir wollen doch bloß ein kleines Stück von der Welt sehen … nur so ein ganz kleines Stückchen!«
»Wir? Wer ist wir?«
»Ich und mein Bruder!«
»Erstens heißt das … mein Bruder und ich, und zweitens … wo ist denn dein Bruder?«
»Jan!« rief Julia laut. »Jan!«
Und da kam er auch schon angetrabt, in jeder Hand einen Rucksack.
»Ach, bitte, nehmen Sie uns doch mit!« bettelte Julia.
»Na schön, sonst kriege ich euch ja doch nicht los! Aber merkt euch eines … wenn man per Anhalter fährt, muß man ein bißchen vorsichtig sein!«
Julia benahm sich wie eine Schönheitskönigin persönlich. »Steig du hinten ein«, kommandierte sie ihren Bruder, »ich bleibe vorne!«
»Macht schnell«, sagte der Fahrer. »Ich habe es eilig!«
Er schien es wirklich eilig zu haben, seinem Tempo nach zu urteilen.
Kurz vor der Grenze bremste er scharf. »So … ich bin hier zu Hause!«
»Hier sind Sie zu Hause?« fragte Julia erstaunt.
»Sie sind wohl von der Grenzpolizei?« fragte Jan.
»Richtig geraten … hoffentlich sind eure Papiere in Ordnung!«
»Na klar!« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde und zückten ihre Ausweise.
Der Mann mit den grauen Schläfen, Leiter der Grenzpolizeistelle Brenner, selber leidgeprüfter Vater, gab Jan und Julia noch einige Ratschläge: »Wenn ihr schon per Anhalter fahren müßt, dann sucht euch möglichst Wagen aus, in denen Frauen am Steuer sitzen oder Ehepaare … oder laßt euch von Lastwagen mitnehmen, deren Firmenzeichen deutlich sichtbar sind … das ist immer noch das Ungefährlichste!«
»Machen wir!« versprach Jan.
»Und vergeßt nicht, wenn ihr jetzt nach Italien kommt, dann ist das für euch das Ausland … aber für die Italiener seid ihr die Ausländer! Denkt immer daran … euch hat niemand in das fremde Land gerufen, ihr seid von selber gekommen. Deshalb muß euch alles so gefallen, wie es ist. Sagt nicht, bei uns zu Hause ist es sauberer, billiger, besser, nehmt, was euch geboten wird, nehmt es so, wie es ist! Denkt immer daran: andere Völker, andere Sitten!«
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