IV.
„Das kann ich besser!“, dachte ich, ganz Pep, auf dem Weg zurück zum Höhenberger Parkplatz und freute mich schon mächtig auf den nächsten Tag. Da stand nämlich meine erste wirkliche Feuertaufe als Trainer auf dem Matchplan. Freundschaftsspiel am Tivoli mit meinen Jungs von Grün-Weiß Brauweiler gegen die achtjährigen Alemannen, die, bestimmt ganz nach Schuberts Philosophie sozialisiert, wahrscheinlich noch nie irgendetwas von Kurzpassspektakel gehört hatten. Klarer Fall: Hier und heute würde ich den ganzen Trainernovizen mal zeigen, was eine Harke ist. Tiki-Taka-Theisen kurz vor dem Durchbruch! Wenn es tatsächlich so etwas wie Trainerscouts gibt, würden sie an diesem Abend sicher zum Tivoli kommen. Und damit war klar: Sie würden mich entdecken, weil meine Jungs natürlich genauso zaubern würden, wie ich es ihnen vorzugeben gedachte.
Gesagt, getan! In der Mannschaftsbesprechung vor dem Kick gestikulierte ich wild, malte mit fuchtelnden Händen taktische Gebilde in die Luft und suhlte mich in taktischen Anweisungen. Wie von Sinnen schrie ich Vokabeln wie „Positionswechsel“, „Kurzpässe“ und „Gegenpressing“. Staunende Augen aus achtjährigen Köpfen schauten mich an, während die Ohren rechts und links davon auf Durchzug stellten. Ich für meinen Teil blieb trotzdem zuversichtlich, schließlich hatte ich einen unschlagbaren Plan – einen Plan allerdings, den das Spiel selbst schon bald durchkreuzte.
Schnell nämlich stand es 2:0 für Alemannia, und das lange bevor überhaupt ein Tiki-Taka-Pass gespielt werden konnte. Von da an ist die Geschichte des Spiels schnell erzählt: Grün-Weiß Brauweiler mit meinem verlängerten taktischen Arm Carl Theisen auf der zentralen Mittelfeldposition legte ein astreines Atmosphärenschießen-Programm auf den Kunstrasen links neben dem Tivoli. Lange und hohe Bälle waren das Mittel der Stunde. Bälle, die an den körperlich deutlich überlegenen Alemannia-Abwehrspielern jedoch ebenso ausnahms- und (für uns) hoffnungslos abprallten wie alle lautstark und verzweifelt ins Feld gebrüllten Anweisungen von der Trainerbank an den kleinen Kickern in meiner Obhut. Das Ergebnis war kalt wie die berühmte Hundeschnauze und traf den spanischen Wundertrainer auf der Brauweiler Bank mitten ins Trainerkontor: 0:8! Tiki-Taka-Theisen am Boden – gepeinigt von Blicken, die zu sagen schienen: Wir sollten mehr Technik und Passspiel im Training üben!
V.
Geprügelt wie ein Hund schlürfte ich zwanzig Meter hinter meinen Jungs vom Feld zum Parkplatz, das volle Ballnetz geschultert und mich pausenlos selbst mit der Frage marternd, was aus meiner Spielidee geworden war. Auf dem Weg zum Auto stieß ich beinahe noch mit Nazim Sangaré zusammen, der am Vorabend am Höhenberg 90 Minuten auf der Bank gesessen hatte. An seiner Hand führte er einen Schuss, der meine Tochter hätte sein können. Ich schaute nicht auf, grüßte weder ihn noch seine Perle – warum auch? Ich war tief gefallen, war wieder Theisen, nach einer einzigen Nacht als Guardiola. Kontrast als Lebensgefühl! Scheitern als Gewissheit! Notorische Zweifler als ewige Begleiter! Trainer eben!
Das Ende der Strafrunden
Nichts verklärt sich mit den Jahren mehr als die eigene Vergangenheit. Was früher bittere Wahrheit war, ist heute höchstens noch eine nachlassende Erinnerung. Nirgendwo merke ich das mehr als auf dem Trainingsplatz, wo ich mir als Jugendtrainer mittlerweile einen Ruf irgendwo zwischen „Ernst Happel ohne Zigaretten“ und „Helmut Schön ohne Mütze“ hart erarbeitet habe. Als selbsternannter Trainer-Gott kämpfe ich einen harten, aber gerechten Kampf gegen Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen. Der Einzige, der weiß, dass ich selbst einst als Spieler genau für diese (Un-)Tugenden stand, bin ich selbst. Und weil ich es niemandem erzähle, kann es mir auch niemand vorwerfen. Die, die einst dabei waren, als Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen zu mir gehörten wie die Peitsche zu Max Merkel, wohnen mittlerweile ganz woanders und trainieren wahrscheinlich selbst irgendwo die Mannschaften ihrer Kinder – eine ganz neue Trainergeneration ist da entstanden, die immerhin weiß, wie man es nicht macht.
Geht etwa einer meiner Jungs im Training frei auf das gegnerische Tor zu, und einer der Verteidiger macht sich auf, ihn noch vor dem Torschuss abzugrätschen, bin ich es, der beschwörend und vielleicht etwas zu feierlich das Training unterbricht, zur Ruhe mahnt und in angemessener Trainer-Lautstärke das Wort an die Mannschaft richtet: „Auf den Beinen bleiben! Auf den Beinen bleiben!“ Bleibt der Verteidiger im Laufe der weiteren Übungseinheit tatsächlich dort oben auf seinen Beinen, bekommt er das wohlverdiente Lob des Trainers und darf sicher sein, am kommenden Samstag in der Startelf zu stehen. Bleibt er allerdings nicht dort, weht ihm der eisige Wind der trainerlichen Ansage entgegen, fachlich fundiert natürlich. So viel Konzepttrainer muss dann schon noch sein. „Du nimmst dich nur selbst aus dem Spiel!“ Denn wer am Boden liegt, kann nicht mehr verteidigen. Hätte mir das doch auch mal jemand erzählt, als ich einst meine Oberschenkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Aschenplätzen des Kreises Düren wundgrätschte.
Noch schlimmer als die grätschenden Verteidiger trifft es während unserer gemeinsamen Übungsstunden allerdings die selbsternannten Künstler – die, die das Erlernen des Spiels nicht wie ihr Coach als harte Arbeit, sondern als willkommene Spaßveranstaltung verstehen. Künstler, so wie Olli einer ist. Jener Olli, der zu meinen Lieblingsspielern gehört, weil er das Spiel und das Leben liebt. Er hat zwar kein ausgeprägtes Faible für die Blutgrätsche, dafür aber für den gepflegten Hackentrick, egal in welcher Situation. Er streichelt den Ball am liebsten mit der Ferse, im Aufwärmspielchen genauso wie mitten in einer von seinem Trainer am Schreibtisch akribisch erdachten Passübung, im Trainingskick oder bisweilen auch im Spiel. Im Rahmen hochfeierlicher Elterngespräche sagt sein Vater dann wahrscheinlich gar nicht mal zu Unrecht, dass sein Sohn sich damit eben ausprobiere. Und trotzdem: Seinen Trainer beschleicht eher das Gefühl, dass er damit ausprobiert wird. Etwa dann, wenn Olli den Hackentrick frei vor dem gegnerischen Tor auspackt und ausprobierend scheitert. Um ihm die Flausen auszutreiben, greife ich bei fast jedem Hackentrick auf die gute alte Trainerschule zurück und ordne eine Strafrunde nach der anderen an – ein Instrument, das bei Elfjährigen erstaunlich gut funktioniert. Notiz an mich selbst: Max Merkel hatte recht!
Was indes weder Olli noch seine Mannschaftskameraden ahnen und auch besser nie erfahren: Sie hätten ihre wahre Freude an mir gehabt. Denn ich war einer von ihnen und ging einst selbst unter dem Spitznamen „Die Grätsche“ in die schnell (und an späterer Stelle noch ausführlicher) erzählte Geschichte der Zweiten Mannschaft des TSV Stockheim 09 ein. Noch dazu beendete ich kein Training, ohne wenigstens einen erniedrigenden Beinschuss gesetzt oder einen unnötigen Hackentrick zum Besten gegeben zu haben. Was der Trainer dazu sagte, interessierte mich herzlich wenig. Lieber feierte ich solche Aktionen lautstark bis in die Kabine hinein und nahm den Platz auf der samstäglichen Ersatzbank gleichmütig hin, wusste ich doch: Auf den Beinen bleiben sollen ruhig die anderen. Nichts verklärt sich mit den Jahren eben mehr als die eigene Vergangenheit.
Und weil es so ist, wie es war, freute ich mich mächtig, als mein Sohn Carl seinen besten Kumpel Olli an einem dieser Freitage dazu überredete, mit uns ins Stadion zu fahren, um dort eine ihm noch völlig unbekannte Mannschaft namens Alemannia Aachen anzuschauen. Ganz entspannter Spieltagsvater und für einen Abend kein bisschen Trainer kaufte ich jedem der Jungs eine Cola und eine Stadionwurst. Anschließend schlenderte ich mit ihnen zur Sitzplatzschale der Wahl und studierte an ihrer Seite das Stadionheft. Ich war zwar einigermaßen neugierig, wie Olli das Spiel und die Mannschaft meines Herzens gefallen würden, war mir aber sicher, dass er hier nicht viel von dem finden konnte, was ihn ansonsten auf dem Trainingsplatz so entzückte.
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