REIZEN DES TRIGEMINUSNERVS
Der Trigeminusnerv übermittelt groben Druck, Schmerz, Temperatur und Jucken – nicht nur im Mund, sondern am ganzen Körper. Wahrgenommen werden diese Reize als „heiß“, „kalt“, „ätzend“, „beißend“, „brennend“, „prickelnd“ und „adstringierend“ (
Trigeminus, Seite 13). Die gezielte Stimulation des Trigeminusnervs will allerdings geübt sein: In einem überchilisierten Curry wird man feine Nuancen nur noch schwer erkennen.
Die Trigeminusempfindung eines Gerichts lässt sich innerhalb eines dreidimensionalen Raumes verorten. Je mittiger der Reiz, desto ausgewogener ist er – je stärker die Tendenz zu einer Ecke hin, desto prägnanter ist diese eine Empfindung.
Den Umfang der Reize des Trigeminusnervs kann man sich als würfelförmigen Raum vorstellen, an dessen Ecken die einzelnen Empfindungen liegen (siehe Abbildung). Wird eine Empfindung zu sehr hervorgehoben, treten die anderen in den Hintergrund. Raffinierter ist es, mit der Würzung die Mitte einer Kantenlänge oder sogar die Mitte des gesamten Raumes anzustreben.
HEISS-KALT – SCHARF-KÜHLEND
PFEFFERdarf in kaum einem Essen fehlen, deswegen ist die trigeminale Reizung „scharf“ ohnehin omnipräsent. Aber auch Chili, Ingwer oder frischer Knoblauch liefern diese Empfindung. Das CAPSAICINin
Chili ist dabei noch um ein Vielfaches schärfer als das PIPERINdes Pfeffers (
Schärfegrade, Seite 135). Wird der Reiz zu stark, artet der Genuss in Schmerz aus – die Grenze ist allerdings individuell beziehungsweise eine Sache der Gewöhnung.
PFEFFERMINZE,Pfefferminzbonbons oder Spearmint-Kaugummi hinterlassen eine angenehme Kühle auf der Zunge und im gesamten Mundraum. Die Trigeminusrezeptoren reagieren auf das Molekül MENTHOL,als träfen sie auf Eis. Minze ist das „kühlste“ Küchenkraut, bereits das 1,8-CINEOLin Eukalyptus wirkt viel schwächer.
„ECHTE“ UND „FALSCHE“ TEMPERATURKONTRASTEwerden von vielen Köchen gerne als interessanter Reiz gezielt eingesetzt. So finden sich auf Tellerarrangements häufig kalte und warme Elemente, etwa ein intensiv schmeckendes Gemüseeis neben einem warmen Fisch- oder Fleischgericht. Aber es muss nicht unbedingt „echte“ Temperatur sein: So wie Minze als kühlend empfunden wird, vermitteln die Schmerzrezeptoren bei Pfeffer und Chili den Eindruck: „heiß“. Daher kann man zum Beispiel kalten Desserts durch etwas Chili Wärme vermitteln. Ein wenig grob zerstoßener Pfeffer im Schokomousse wirkt nicht scharf, sondern unterstreicht den Charakter in Richtung „heißer Schokolade“. Etwas
Langer Pfeffer in einem kühlen, fruchtigen Obstsalat gibt diesem einen überraschenden „heißen“ Kick – der sich im übrigen steigern lässt, wenn noch ein Teelöffel Olivenöl untergehoben wird, um einen Hauch „bitter“ hineinzugeben.
BRENNEND, BEISSEND, PRICKELND
DER WÄRMENDE EFFEKTin Ingwer, ausgelöst durch das GINGEROL, unterscheidet sich in der Empfindung deutlich von Pfefferschärfe. Mit einem Teelöffel frischem
Ingwer wird ein Obstsalat ordentlich aufgepeppt. Ebenso unterstützt etwas frischer Ingwer die Säure der Vinaigrette und verstärkt den Genuss durch zusätzliche Trigeminusreizung. Auch MYRISTICINhat einenleicht „brennenden“ Effekt, es findet sich nicht nur in Muskatnuss, sondern auch in Pastinaken und den Blattgewürzen Petersilie und Liebstöckel. Reichlich Petersilie in einem Salat – oder einfach Petersilie mit Öl, Salz und ein paar Tropfen Zitronensaft als Tellerelement – liefert ein kräuteriges Aroma und ein leicht brennendes Gefühl im Mundraum. In verschiedenen Lakritzprodukten erzeugt Salmiak beziehungsweise Ammoniumchlorid ein brennendes Gefühl. Daher kann mit klein geschnittenen Lakritzrollen oder Konfekt entsprechend gewürzt werden. Den Versuch ist es wert, man sollte allerdings immer sparsam dosieren. Hier offenbaren sich ganz neue kulinarische Zusammenhänge – auf molekularer Basis.
ALS BRENNEND UND „BEISSEND“können hochprozentiger Alkohol und Tabakrauch empfunden werden. Beides ist küchentechnisch nicht relevant, aber mit Tabak kann gewürzt werden: Dazu werden seine Aromen und Inhaltsstoffe über Wasser oder Öl extrahiert und so den Speisen zugefügt. Eine derart aromatisierte dunkle Schokolade hat tatsächlich ihren Reiz. Allerdings ist Vorsicht bei der Dosierung geboten, denn Nikotin ist bekanntermaßen nicht gesund, ein Zuviel wirkt toxisch. Das Gericht „schmeckt“ außerdem schon bei einer leichten Überdosierung nicht mehr. Ärzte werden es nicht empfehlen, aber für manche ist hin und wieder etwas Pfeifentabak im Schokodessert – genossen mit einem Gläschen bestem Rum, Whisky, Cognac oder Calvados – ein wahrhafter Genuss: Hier werden als „beißend“ empfundene Komponenten unterschiedlichster Aromatik zusammengeführt. Auch bringt etwas Tabakextrakt in Begleitung mit Fisch oder hellem Fleisch ganz besondere Noten. Von Sahnesaucen zu Poularden, die leicht mit Tabak und Morcheln geschwängert sind, ganz zu schweigen. Die Effekte lassen sich auch kombinieren: Eiszubereitungen mit geräuchertem Joghurt-Ziegenkäse ergeben sowohl einen gefühlten warm-kalt-Kontrast als auch einen ganz neuen Eindruck von Rauch.
Die kühlende Wirkung des synthetisch für Pharmazwecke hergestellten Icilins, eines schmerzlindernden Wirkstoffs, übersteigt diejenige des Menthols (Minze) um ein Vielfaches, während das eukalyptusartig duftende 1,8-Cineol (unter anderem in Basilikum, Eukalyptus, Kardamom und Lorbeer) weit schwächer ist und erst bei hohen Konzentrationen wirkt.
(Nach Hanns Hatt, www.cphys.ruhr-uni-bochum.de)
EIN DEUTLICHES PRICKELNsowie eine leichte Taubheit der Zunge werden etwa von HYDROXY-α -SANSHOOLin
Szechuanpfeffer und
Parakresse ausgelöst. Die chinesische Provinz Szechuan, aus der diese Pflanze stammt, hat für ihre besondere Schärfequalität einen speziellen Begriff eingeführt (má), um sie von der Schärfe etwa einer Chili (là) abzugrenzen. Die Kombination der beiden Qualitäten (má là) führt zu ganz besonderen und in Europa wenig bekannten „Geschmacks“-Erlebnissen, die sich durch ihr breites Empfindungsspektrum auszeichnen, das über gewöhnliche Schärfe hinausgeht.
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