Um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken, brütete ich fortan Tag und Nacht über gewissen Passagen aus Kassandras Vermächtnis, deren tieferen Sinn ich bislang nicht ergründen konnte. Eine Arbeit, für die ich meine Papiere nicht benötigte. Ich kannte inzwischen nahezu den gesamten Text auswendig.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Angeber. Von wegen Tag und Nacht gebrütet. Während uns die Soldaten im Wechsel bewachten, schnarchte mein guter Doktor, dass es schauerlich von den Bergen widerhallte. Ich übertreibe. Aber glauben Sie mir, der Mann hat einen gesunden Schlaf. Fast wie Schecki, die kleine Schnarchnase. Pardon, den vergaß ich zu erwähnen. Der Hund musste nicht lang nachdenken, als er sah, dass die beiden einzigen Menschen, die sich um ihn kümmerten, das Lager der Freischärler verließen. Ohne zu zögern schloss er sich uns an. Ich habe zwar normalerweise nicht viel für Hunde oder Katzen übrig. In unserer damaligen Lage allerdings beruhigte die Begleitung des unschuldigen Tierchens meine angespannten Nerven.
Der zweite Tag unserer Wanderung verlief kaum anders als der erste. Die Franzosen verhinderten konsequent jedes Gespräch. Infolgedessen waren sie in dem unwegsamen Gelände dermaßen mit unserer Beaufsichtigung, ihren zu langen Gewehren und dem Bemühen beschäftigt, nicht zu stürzen, dass ihnen ein interessantes Detail entging. Unsere Marschrichtung hatte sich seit dem Mittag kaum merklich Stück für Stück geändert. Statt weiter nach Norden zu gehen, schwenkten wir nach und nach in Richtung Süden.
Mir war das früh aufgefallen. Ich hütete mich jedoch, ein Wort darüber zu verlieren. Eine kurze Bemerkung Fridolins am Morgen und ein Blickkontakt mit ihm und Esmeralda nachmittags, als die Veränderung immer offensichtlicher wurde, machten mir deutlich, dass dies kein Zufall sein konnte.
Unser schmucker Gardeleutnant, der in Gedanken wohl schon seine Beförderung durchspielte, sprach Esmeralda erst in den Abendstunden auf den Richtungswechsel an. Da befanden wir uns bereits auf der Suche nach einem Lagerplatz. Sie erklärte ihm kurz angebunden in gebrochenem Französisch, dass er gern eine kürzere Route wählen könne, wenn er sich hier so gut auskenne. Sie für ihren Teil habe keine Lust, sich auf vereisten Steilhängen das Genick zu brechen. Schüchtern wagte der Offizier einzuwenden, dass der Junge auf dem Hinweg seiner Erinnerung nach anders gelaufen sei. Esmeralda zuckte mit den Schultern und meinte, möglicherweise kenne der Schleichwege, die ihr unbekannt seien. Sie habe den Auftrag, uns alle sicher ins Tal zu geleiten und das könne sie eben nur da, wo sie Bescheid wisse. Damit war die Sache erledigt. Der Franzose gab sich zufrieden.
Innerlich musste ich über das erstaunliche Selbstbewusstsein des Mädchens schmunzeln. Oben, unter der Fuchtel der alten Vettel, hatte sie auf mich eher schüchtern gewirkt. Wie man sich in einem Menschen täuschen kann.
Der Doktor bekam von all dem nichts mit. Er trottete gedankenverloren vor sich hin. Fast fürchtete ich um seinen seelischen Zustand. Allein, ein gelegentliches Aufleuchten seiner Augen, verbunden mit tonlosen Lippenbewegungen sagten mir, dass sein Geist sich schlicht und ergreifend aus der unerfreulichen Gegenwart in die vergangenen Gefilde seiner geliebten Kassandra zurückgezogen hatte. Das würde sich wieder geben.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Als wir am neuen Lagerplatz ankamen, begann Elisabeth sofort, unsere Zeltplane aufzuspannen. Ich sollte ihr helfen. Den Soldaten war es recht. Die Männer sahen ziemlich erschöpft aus. Sie setzten sich, neckten Schecki und beobachteten uns müde. Unsere Führerin hatte einen ähnlichen Flecken wie am Vortag ausgesucht. Mit riesigen, einzeln herumliegenden Felsbrocken. Um die Plane fest zu verzurren, mussten wir um diese Steinhaufen herum laufen. Dahinter konnten uns die Soldaten nicht sehen. Gelegenheit für Elisabeth, mich in ihren Plan einzuweihen.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Geht so.“
„Ich hab extra eine schwierige Route gewählt, damit die Jungs heut Nacht gut schlafen. Natürlich wird immer einer Wache halten. Den lenke ich ab. Wenn sie es so wie gestern machen, ist die dritte Wache der lange dürre Sergeant. Der hat ein Auge auf mich geworfen. Schaffen Sie es, so lange munter zu bleiben?“
„Ich weiß nicht. Glaub schon.“
„Notfalls trete ich Ihnen irgendwie auf den Fuß, wenn es los geht. Nehmen Sie das Messer hier.“ Sie reichte mir ein schmales Stilett. „Stecken Sie‘s in den Stiefel. Ich denke, Sie kriegen es hin, sich damit die Fesseln durchzuschneiden?“
„Sicher.“ Das stimmte zwar nicht, denn wo hätte ich sowas lernen sollen? Ich bin doch kein Entfesselungskünstler. Aber was sollte ich sagen? Zaghaft wagte ich eine Nachfrage: „Und was machen wir mit den Franzosen?“ Sie sah mich erstaunt an.
„Wollen Sie die Herren zum Tanz auffordern oder was?“
„Nein, das nicht, nur …“ Wir mussten unsere Unterhaltung bis zum nächsten Felsen unterbrechen. Die Soldaten wären sonst misstrauisch geworden. Sobald wir wieder außer Sicht waren, fauchte sie mich an.
„Was soll das? Wollen Sie den Helden spielen und mit drei Gefangenen durch die Berge pilgern? Heiliger Santiago de Compostela! Kräftige junge Soldaten, bewacht nur von uns beiden? Die zwei halbtoten Zivilisten zählen ja wohl nicht, oder? Also wenn das Ihr Ernst ist, wären Sie ja noch dümmer als unser eitler Gardeleutnant. Soll ich Sie hier halbwegs sicher raus und nach Spanien bringen oder nicht?“
„Schon …“
„Dann müssen wir kurzen Prozess machen. Es geht nicht anders. Sie stechen die beiden Schläfer ab, ich mach den Wächter fertig. Wenn einer von uns beiden Probleme bekommt, hilft der andere. Solange wir in den Bergen sind, wird nach meinen Regeln gespielt. Unten in der Ebene dürfen Sie gern das Kommando übernehmen. Das Risiko ist auch ohne Heldenoper hoch genug und jetzt weg hier, sonst wird de Lafontaine vor der Zeit misstrauisch.“
Ja, es wurde höchste Zeit. Prompt kam der lange, dürre Sergeant, von dem sie gesprochen hatte, um die Ecke geschlendert, um nach uns zu sehen. Es war der Dolmetscher. Elisabeth schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und bat ihn, ihr aufzuhelfen. Sie hatte recht, der Kerl fraß ihr aus der Hand. Ich machte, dass ich in die Nähe von Mynheer van Delft kam. Ich musste mich mit ihm beraten. Denn ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Menschen getötet. Schon gar nicht im Schlaf. So etwas stand nicht in meinem Arbeitsvertrag.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Das hätte ich auch nie in einen Arbeitsvertrag geschrieben! Fridolin ist ein Witzbold. Aber als er damals nach dem Zeltaufbau zu uns kam, war ihm ganz sicher nicht nach Scherzen zumute. Er sah richtig schlecht aus. Ich ahnte, dass sein Zustand nicht von den Anstrengungen des Tages herrührte.
Zum Glück standen unsere Bewacher wirklich am Rande der absoluten Erschöpfung. Sie waren jetzt sechs bis sieben Tage fast pausenlos auf den Beinen. Im Gegensatz zu uns hatten sie aber außerdem Waffen, Munition, den üblichen Tornister mit Spaten, Decken, Essgeschirr und so weiter zu schleppen. Und sie mussten seit zwei Tagen aufpassen, dass wir keine Dummheiten machten. Dazu die kalte, dünne Höhenluft und die ständige Kletterei. Es wunderte mich gar nicht, dass sie es an diesem Abend etwas ruhiger angehen ließen. Sie waren überzeugt, dass es uns nicht besser ging als ihnen und nach diesem harten Tag folglich kein Fluchtversuch zu erwarten sei. Sobald sie uns die üblichen Fesseln angelegt hatten, ließen sie uns links liegen. Zum ersten Mal, seitdem sie bei den Freischärlern aufgekreuzt waren, ignorierten sie uns nahezu komplett. Sie setzten sich ans Feuer. Wenn ich das richtig sah, spendierte der Leutnant zur Feier des Tages sogar eine kleine Ration Branntwein oder etwas in der Art. Esmeralda hielt mit und holte aus ihrem Proviantbeutel eine Flasche Rotwein, die sie großzügig mit den Franzosen teilte.
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