Vielleicht eins noch. Fridolins kecke Behauptung, er gehöre zum preußischen Generalstab und ich sei lediglich seine Tarnung, brachte mir weitere leichte Verbesserungen. Das Mädchen, das den Freischärlern zu Diensten war, erhielt die Erlaubnis, meine Wunde zu säubern und zu verbinden. Sie wischte mir das Blut aus dem Gesicht und kümmerte sich wirklich rührend. Ich fragte mich, in welchem Verhältnis sie zu der Truppe stand. Irgendwie schien sie nicht hierher zu passen.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Ziemlich ärgerlich, über Nacht wieder Fesseln angelegt zu bekommen. Aber ich verstand die Argumente des Leutnants. Hier gab es keine Türen, die er verschließen konnte. Die Ansicht der Räuber, dass in den wilden Schluchten der Pyrenäen für Ortsunkundige jede Flucht sinnlos wäre, teilte er keineswegs. Obwohl der Schafskopf selbst Führer benötigte, um zu diesem Flecken und wieder zurück zu finden. Anders als den Entführern konnte es ihm natürlich nicht gleichgültig sein, ob ich das Abenteuer überlebte oder nicht. Die Aussicht, mit meinen Geständnissen quasi zum Retter der Nation aufzusteigen, durfte er nicht aufs Spiel setzen. Ich war für ihn so etwas wie der Garant zur Beförderung. Er hatte mit einem dicken Fisch gerechnet. Mein Hokuspokus übertraf seine Erwartungen. Ich gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, dass er keine Zweifel an meiner Räuberpistole hegte. Typischer Fall von Verfolgungswahn! Wenn es nicht schon so spät gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich sofort mit uns auf den Weg nach Frankreich gemacht.
Ich nutzte seine aufgekratzte Stimmung, ihn ein bisschen auszufragen. Zum Beispiel, wie sie auf uns gekommen waren. Er plauderte ziemlich ungehemmt drauflos. Wahrscheinlich hielt er es für sinnvoll, mir als Ranghöherem die Effektivität der kaiserlichen Geheimpolizei vor Augen zu führen. Ein grüner Junge, der sich wichtigmachen wollte.
Interessanterweise lag ich mit meiner Vermutung, den Markt in Toulouse betreffend, gründlich daneben. Unser seltsamer kleiner Tross mit den Unmengen an Werkzeugen und Ziel Spanien war ihnen bereits an der belgisch-französischen Grenze aufgefallen. Und schon dort im Zug hatte ich auf Deutsch geflucht, als ich sämtliche Koffer für die Zöllner öffnen und auspacken musste. Verdächtig, wie wir von diesem Augenblick an waren, platzierten sie ab Paris zwei weibliche Spione im Abteil vom Doktor und meinem Herrn. Frauen als Agenten! Ich konnte es kaum glauben. Meine beiden Quasselstrippen fielen natürlich auf die Damen herein und hatten nichts Besseres zu tun, als unsere gesamte Reiseroute haarklein auszuplaudern. Nur um das Ziel unserer Mission machten sie ein Geheimnis. Logisch. Die Franzosen fühlten sich bestätigt, wollten aber angesichts der delikaten politischen Lage zwischen den europäischen Mächten Aufsehen vermeiden. Also verlegten sie ihren Zugriff in neutrales Gebiet, in dem auf unwegsamen Pfaden immer mal Leute spurlos verschwanden.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Hat man Töne! Die beiden Damen! Darüber habe ich mit Fridolin bisher nie gesprochen. Wir hatten ja weiß Gott meist Wichtigeres im Kopf. Unglaublich. Dass sie Spione waren, davon höre ich gerade das erste Wort. Weibliche Spione! Obwohl Frauen nachgewiesener Weise nichts von Politik verstehen und zum Glück nicht wählen dürfen. Holde Feen, missbraucht als fehlgeleitete Marionetten eines skrupellosen, verkommenen Systems! Ich bin entsetzt! Diese Froschfresser schrecken vor nichts zurück. Das zarte weibliche Geschlecht: ausgebeutet und benutzt, ahnungslose Männer auszuhorchen. Wie weit wäre Madame eigentlich gegangen, wenn wir beide im Zug nicht so redselig gewesen wären? Immerhin mussten wir in Toulouse eine Nacht im Hotel verbringen. Nicht auszudenken! Natürlich hätten wir Herren gegenüber, in denen wir ernsthafte Konkurrenten vermuten durften, nie und nimmer so offen geredet! Welch ein Schock noch im Nachhinein!
Die Geschichte mit der „Sommerfrische“: erstunken und erlogen! Dachte ich mir gleich. Wie tief war die glorreiche „Grande Nation“ unter dem dritten Bonaparte gesunken? Unmoral bis in den Staatsapparat. Spitzelnetze und Polizeiwillkür statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Pervers. Kein Wunder, dass die Pariser im September, unmittelbar nach Napoleons Gefangensetzung durch die Deutschen, die nächste Revolution anzettelten. Unerhört! Das muss ich dem Doktor berichten. Er wird es sich nächstens zweimal überlegen, ob er fremde Ladies anspricht. Ein Skandal!
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
Es war eine sternlose Nacht. Dunkle Wolken bedeckten den Mond. Ich konnte lange nicht einschlafen. Zu aufregend waren die vergangenen Stunden gewesen und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Der Leutnant sagte nur, dass wir nach Frankreich abtransportiert würden. Aber wohin genau, mit welcher Begleitung, gebunden oder frei? Bestünde eine Fluchtmöglichkeit?
Nebenan schnarchten der Doktor und die französischen Sergeanten um die Wette. Etwas raschelte im Gebüsch. Ich fuhr herum. Eine Schlange? Auch das noch. Ich wollte gerade um Hilfe rufen, da zischte es. Aber nicht wie eine Schlange. Eher so:
„Schhhhhh“. Eine Hand legte sich auf meinen Mund. Dann passierte eine Weile nichts. Erst nachdem bestimmt zwei Minuten lang kein anderes Geräusch zu hören war, ließ mich die Hand los. Aus dem Gebüsch tauchten Umrisse eines Gesichts auf und schoben sich ohne einen Laut an mein Ohr. Eine weitere Minute verstrich, bevor sich die Lippen endlich öffneten.
„Ganz still, bitte. Wenn die uns hören, sind wir beide tot.“ Es war mehr ein Hauch als ein Flüstern. Und dieser Hauch klang deutsch. Eine mir bekannte Stimme. Ich war verblüfft.
„Esmeralda?“
„Schhhh. Sprechen Sie leise. Ich kann Ihnen vielleicht helfen.“
„Aber wieso …?“
„Erzähl ich Ihnen später. Ist ‘ne lange Geschichte. Mein richtiger Name ist Elisabeth. Elisabeth Schubert. Ich komme aus Deutschland, lebe aber seit Jahren hier in den Bergen. Bitte sagen Sie mir eins: Stimmt es, dass Sie Deutscher sind?“ Eine Falle. Mein Herz bebte. Ganz bestimmt eine Falle. Es konnte nicht anders sein. Nur, warum sie? Und warum so? Das hätten sie am Rande des Abendessens bequemer haben können. Ich bekam Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Warum interessiert Sie das?“
„Weil ich Ihre einzige Chance bin. Weil ich Sie und die Franzosen morgen früh führen werde.“
„Sie? Wieso?“
„Weil die anderen keine Lust haben.“
„Keine Lust? Ich dachte, für Geld machen Räuber alles.“
„Räuber?“ Sie verschluckte ein leise glucksendes Lachen. „Na ja, vielleicht haben Sie recht. Räuber. Selber nennen sie sich Freiheitskämpfer. Es sind Euskaldunak.“
„Euskal was?“
„Schhhh. Euskaldunak. Basken, die sich nach Andorra ins Exil zurückziehen mussten. Auf ihre Köpfe sind Prämien ausgesetzt. In Spanien wie in Frankreich. Das Baskenland erstreckt sich westlich von hier beiderseits der Grenzen. Weil meine Kameraden Unabhängigkeit für ihr Land wollen, werden sie verfolgt. Deshalb haben sie keine Lust, das Risiko einzugehen, Ihre Gruppe aus Andorra raus zu eskortieren.“
„Und warum arbeiten sie dann hier mit den Franzosen zusammen?“
„Für Ihren Fang haben sie einen ziemlichen Batzen Geld gekriegt. Allerdings nur für den Fang. Meine Leute brauchen viele Francs und Peseten, um eine Befreiungsarmee aufzubauen. Da ist es ihnen egal, wo die herkommen. Selbst in Feindesland zu ziehen, ist was anderes. Das ist ihnen momentan zu heiß. Vielleicht würden sie Sie und die Franzosen zurück eskortiert, wenn die dafür mehr geboten hätten. Konnte der Herr Lafontaine aber nicht, weil er nicht so viel dabei hat. Sie wissen ja, nur Bares ist Wahres. Dass er nicht so viel dabei hat, liegt wiederum daran, dass er nicht dachte, dass er Sie zurückbringen muss. Normalerweise wären Sie jetzt schon tot. Standrechtlich erschossen. Ihre Erpressung hat ihn bewogen, anders zu entscheiden.“
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