1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Ah, interessant. Fridolin bringt mir seine Notizen. Ich bin gespannt.
Erinnerungen von Fridolin Bergmann, Rotterdam im Januar 1871
War schon komisch, plötzlich diesen Typen gegenüberzustehen. Ich hatte Angst. Als ich unseren Führer so in seinem Blut liegen sah, wollte ich nach seinem Gewehr greifen und uns verteidigen. Der Doktor hielt mich zurück. Master van Delft gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, ich möchte mich ruhig verhalten. Ich bin beiden sehr dankbar. Ohne sie könnte ich das hier wahrscheinlich nicht mehr aufschreiben.
Nach stundenlanger Kraxelei kamen wir ans Lager der Entführer. Die waren eine richtige Räuberbande, wenn Sie mich fragen. Üble Gesellen. Bis auf eine der Frauen. Die sah nicht so böse aus wie die anderen. Zerlumpt angezogen aber nicht böse. Vor allem wenn sie lächelte. Dann sah sie direkt nett aus. Ziemlich jung. Dafür war die alte, die immer nach uns sehen kam, eine Hexe. Da bin ich mir sicher. Dreckig und ungepflegt. Die hielt mir ein Stück Fleisch unter die Nase. Konnte ich nicht anfassen, weil sie uns die Hände an die Bänke gefesselt hatten. Also hab ich mit dem Mund danach geschnappt. Sie zog das Fleisch weg und lachte sich halb tot. Am Ende hat sie genüsslich ein paar Bissen direkt vor meinem Gesicht verputzt und den Knochen mit viel Fleisch dran weggeschmissen. Gemein. Allerdings gab es dort ein kleines Hündchen. Das hat sich den Knochen geholt. Dem hab ich das Fleisch gegönnt. Ich hab gesehen, wie die andern ihn ärgerten, ihn traten und Steine nach ihm schmissen. Dabei war das so ein süßer Kerl. Kaum größer als eine Katze. Weißes Fell mit braunen und schwarzen Flecken. Niedliches braunes Gesicht. Ich weiß nicht, ob der schon einen Namen hatte, aber weil er so scheckig aussah, hab ich ihn Schecki genannt. Ich hab mich mit ihm unterhalten und er guckte mich mit seinen großen braunen Augen an, als ob er alles versteht. Ich glaube, er hat mich gleich genauso gerngehabt wie ich ihn. Ich war ja der einzige da oben, der sich mit ihm beschäftigte.
Stimmt nicht ganz. Das Mädchen, die junge Frau, die ich gerade erwähnt hab, die hätte vielleicht auch gerne mit ihm gespielt. Ein paar Mal hat sie es versucht. Die Alte hat sie jedes Mal angebrüllt und zurück an den Bratenspieß geschickt. Vielleicht wollten die Räuber aus dem Hündchen einen scharfen Wachhund machen. Blödmänner. Schade nur, dass ich keine Hand frei hatte, um ihn zu streicheln.
Master van Delft und der Doktor haben versucht, mit den Räubern zu reden. Aber die antworteten nicht. Sie lachten nur und spuckten vor uns aus. Außer die Junge. Meistens wirkte die ein bisschen traurig. Ich hab gehört, dass die anderen sie Esmeralda nannten.
Sonst konnte ich nichts verstehen. Die Sprache, in der sich die Leute unterhielten, war nicht spanisch und nicht französisch. Also ich kann das sowieso nicht beurteilen. Der Doktor sagte sowas. Er meinte, dieses Kauderwelsch gehört wahrscheinlich zu einem der Bergvölker in Nordspanien. Wahrscheinlich zu den Katalanen. Blöd, dass sie nicht holländisch mit uns redeten. Ich hätte schon gern gewusst, warum sie uns gefangen hielten.
Irgendwann am Nachmittag änderte sich etwas. Ein Knabe, kaum zwölf Jahre alt, schätze ich, brachte Soldaten ins Lager. Drei Soldaten. Er bekam von ihnen ein Geldstück in die Hand gedrückt und verschwand sofort wieder. Ich kenn mich mit französischen Rangabzeichen nicht aus. Es waren aber auf alle Fälle Franzosen. Ein Offizier und zwei Kadetten oder Sergeanten oder so. Die begrüßten kurz die anderen Räuber und kamen dann zu uns. Nicht etwa zu Master van Delft. Auch nicht zum Doktor. Die kamen direkt zu mir.
Einer von den Soldaten, ihr Dolmetscher, sprach mich auf Deutsch an. Keine Ahnung, wieso. Eigentlich hatte ich niemandem erzählt, dass ich lange in Bremen gelebt habe, bei meinen Großeltern. Woher wussten die, dass ich deutsch kann? Vielleicht von Toulouse. Als Master van Delft auf der Suche nach einem Bergführer war, habe ich Einkäufe besorgt. Proviant und so. Dabei habe ich mal kräftig deutsch geflucht, weil ich mitten auf diesem beschissenen Markt ausversehen in einen Kothaufen getreten bin. Dieses „Himmel, Arsch und Zwirn! Verdammter Mist!“ ist mir einfach rausgerutscht. Es ist wirklich komisch. Wenn ich fluche, dann meistens deutsch. Das klingt kerniger. Eine dumme Angewohnheit. Aber wieso sollten die hier was von meinem Ausrutscher in Toulouse wissen?
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Tja, Herrschaften, das war schon ein starkes Stück. Gehen die Franzosen einfach an mir vorbei und beginnen mit Fridolin ein Gespräch. In deutscher Sprache! Mir fiel wieder ein, dass ich ihn eigentlich nach seinem deutschen Familiennamen fragen wollte. Dazu war es nun zu spät. Konnte es sein, dass mein Kammerdiener ein Spion war? Ein von meinen Konkurrenten gedungener Verräter? Ein gemeiner Spitzel, womöglich militärisch geschult? Das würde seine enorme Kondition erklären.
Eine weitere Frage ging mir im Kopf herum. Was trieben die Franzosen in Andorra? Gut, ihr Napoleon gilt zusammen mit einem nordspanischen Bischof offiziell als Staatsoberhaupt. Gewissermaßen eine fürstliche Kooperative. Die Folge eines Paktes aus dem Mittelalter. Aber de facto werden die Bergbauern von einem frei gewählten Parlament regiert. Der Pakt beinhaltet außerdem, dass weder spanisches noch französisches Militär etwas auf andorranischem Territorium verloren hat. Der kleine Pyrenäenstaat bildet so eine Art entmilitarisierte Pufferzone. Und auch wenn wir lange hatten laufen müssen, war ich mir ziemlich sicher, dass wir uns noch immer in Andorra befanden. Eine äußerst mysteriöse Angelegenheit.
Nun, ich beherrsche ein wenig deutsch. Die Sprache unterscheidet sich nur geringfügig von der unseren. Beide entstammen der gleichen Wurzel. Französisch spreche ich fließend. Deshalb sehe ich mich in der Lage, den Wortlaut des merkwürdigen Gesprächs einigermaßen vollständig wiederzugeben. Ihr Anführer, ein Leutnant, begann mit der Befragung. Einer der beiden Sergeanten übersetzte:
„Wer sind Sie und wo kommen Sie her?“
„Was wollen Sie von uns?“
„Die Fragen stellen wir.“
„Binden Sie mich los und ich sag’s Ihnen vielleicht.“ Es setzte eine schallende Ohrfeige. Ging man so mit einem verbündeten Spitzel um?
„Falsche Antwort. Ich wiederhole: Wer sind Sie und woher kommen Sie?“
„Leck mich.“ Die nächste Ohrfeige. Ich hielt es für nötig, einzugreifen.
„Lassen Sie ihn in Ruhe!“ rief ich auf Französisch. „Ich trage hier die Verantwortung. Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie mich.“ Der Offizier schien unentschlossen, drehte sich nach kurzem Überlegen aber zu mir um.
„Gut Monsieur, dann lassen Sie mich eben Ihre Geschichte hören.“
„Ich nehme an, die kennen Sie besser als ich. Welcher feige Hund hat Sie beauftragt, mich aufzuhalten?“ Die dritte Ohrfeige traf mich. Ein heftiger Schlag. Meine Wange brannte und mein Kopf dröhnte.
„Was wollen Sie in Spanien?“ Ich nahm all meinen Mut zusammen und grinste ihn frech an.
„Sommerfrische, Mynheer. Wir sind holländische Sommerfrischler auf dem Weg ans Mittelmeer.“ Ich erwartete eine weitere Ohrfeige. Sie blieb aus. Stattdessen zog der Kerl seine Pistole, entsicherte und hielt sie mir an die Stirn.
„Wenn du kleiner Saboteur mich zum Narren halten willst, zeige ich dir, wie Le Grande Nation mit Verrätern umzugehen pflegt.“ Saboteur? Verräter? Was sollte das denn? Womöglich eine Verwechslung?
„Nichts für ungut, Herr Leutnant. Ich sag Ihnen alles. Aber Sie nehmen Ihren Schießprügel weg.“ Der Offizier grinste.
„Dachte mir, dass Sie für gute Argumente empfänglich sind. Ich nehme die Pistole weg. Aber seien Sie versichert, um die standrechtliche Erschießung kommen Sie sowieso nicht herum, wenn sich unsere Informationen bewahrheiten sollten. Ihre einzige Chance auf mildernde Umstände ist ein umfassendes Geständnis.“
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