Das Einzige, was meinem Vater nun fehlte, war Zeit. Die hatte er außerhalb seiner Arbeit immer seltener für uns. Und so sah ich ihn früh am Morgen zur Arbeit aufbrechen, und wenn er abends spät und total erledigt nach Hause kam, steuerte er auf direktem Weg die Couch im Wohnzimmer an. Nur für das Abendessen verließ er kurzzeitig seinen Lieblingsplatz, kehrte danach aber zu einem ausgiebigen Fernsehabend wieder dahin zurück. Tag für Tag. Woche für Woche. Nur an Festtagen wurde diese Routine unterbrochen – oder wenn die gesamte Familie zusammentraf. Wir hatten eine große Familie, und wenn alle gemeinsam feierten, ging es nicht selten hoch her. Zu vorgerückter Stunde sah ich meine Tanten ausgelassen auf den Tischen tanzen. Superschlank, voller Energie und überschäumender Lebensfreude, die aus allen Poren zu strahlen schien.
Meine Onkel hingegen saßen behäbig und passiv am Rand des Geschehens. Sie hielten das Bierglas über ihren dicken Bäuchen fest umklammert, rauchten Pfeife und betrachteten stumm, aber mit stolzen Mienen ihre attraktiven Frauen. Vom Türrahmen aus beobachtete ich diese Szenerie. Ich dachte an meinen Vater, der neben der Arbeit kaum noch aktiv war. Ich sah meine Onkel träge in der Ecke sitzen. Dabei wurde mir eines klar: Eher tanze ich später mal auf den Tischen, anstatt unfähig und lethargisch danebenzusitzen. Eher würde ich lebensfroh und ausgelassen mein Leben genießen, als den anderen bei ihrem Treiben zuzuschauen. Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Ein Leben in der Runde. In der Runde des Alltags. Schon mit 13 Jahren schwor ich mir an jenem Abend eindringlich: So werde ich nie, niemals leben!
(Alb-)Traumberuf
Mit dem Abschluss der Schule sollte der Ernst des Lebens beginnen. „Du kannst Maurer, Zimmermann oder Autoschlosser werden“, riet mir mein Vater, als es um die Berufswahl ging. Das waren die Berufe, die zu jener Zeit gemeinhin anerkannt waren. „Irgendwo im Büro zu sitzen und Akten hin- und herzuschieben, ist kein ‚richtiger’ Beruf!“ Mein Vater verzog das Gesicht und machte eine abfällige Handbewegung. „Zudem bringt er nur wenig Geld.“ Ich war ein mittelmäßiger Schüler. Nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht. Ganz so, wie Jungs eben mal sind. Ich habe nie wirklich für Klassenarbeiten gelernt und, abgesehen vom Schulsport, wenig Initiative gezeigt. Die Schule war in meinen Augen eher ein notwendiges Übel, das man eben bewältigen musste. Dennoch hatte sie auch etwas Positives. Im Schulflur stieß ich unerwartet auf meinen späteren Traumberuf. Das Mosaikbild an der Wand, an dem ich mehrmals täglich entlangging, fesselte immer wieder meinen Blick. Bis ich irgendwann völlig fasziniert davor stehenblieb. Ein Kunstwerk aus tausend kleinen Steinchen, perfekt aufeinander abgestimmt und optimal in Szene gesetzt. Etwas nachhaltig Künstlerisches gestalten – so etwas wollte ich auch mal machen. Das war genau mein Ding.
Doch wie nannte sich der Beruf, und wie fand man eine solche Lehre? Heute ließe sich das ganz einfach herausfinden. Man setzt sich an den Rechner und googelt nach entsprechenden Begriffen. Damals ging das noch nicht. Da hieß es, auf dem Postamt Telefonbücher wälzen. Oder auf eine glückliche Fügung hoffen. Und ich hatte Glück: Durch Zufall erfuhren meine Eltern von einem Fliesenleger aus Kiel, der in Oldenburg eine Filiale eröffnete und selbst Lehrlinge ausbildete. Mein Vater schnappte mich, und wir fuhren kurzerhand dahin, damit ich mich im Betrieb vorstellte. Das hinterließ wohl Eindruck, denn kurze Zeit später erhielt ich die Zusage und begann mit gerade mal 14 Jahren meine Ausbildung als Fliesenleger.
Anfangs ahnte noch keiner, welcher Hype um das Thema Fliesen in den kommenden Jahren ausbrechen sollte. Früher waren Küchen und Bäder mit Rohrleitungen über Putz ausgestattet und einfach mit Ölfarbe gestrichen. Zu Beginn meiner Ausbildungszeit trat jedoch ein Gesetz in Kraft, das besagte, dass öffentliche Küchen vollständig gefliest sein müssen. Auch Campingplätze erhielten nur eine Genehmigung, wenn die Bäder mit Fliesen versehen waren. Selbst Einfamilienhäuser, die wie Pilze aus dem Boden schossen, wurden nur noch mit gefliesten Bädern ausgestattet. Lediglich fünf Fliesenleger gab es im gesamten Einzugsgebiet. Die Nachfrage, die plötzlich auf uns niederging, konnten wir unmöglich alleine stemmen. Zudem bekam ich unzählige Anfragen aus meinem privaten Umfeld, so dass ich auch noch nach Feierabend Fliesen verlegte.
Regelmäßig erreichten mich verzweifelte Anrufe wie der vom nahe gelegenen Campingplatz: „Wir haben vom Gesundheitsamt die Auflage erhalten, umgehend die Duschen zu fliesen“, höre ich eine panische Stimme. „Bis wann soll das denn erledigt werden?“, erkundige ich mich sachlich, wohlwissend, dass dazu in den nächsten Wochen keine Zeit sein würde. Kurze Stille in der Leitung. „Geht das auch bis übermorgen?“, kam es daraufhin zögerlich und mit flehender Stimme. Nein zu sagen, fiel mir von jeher schwer. Wenn ich gebraucht wurde, war ich da. Ich hatte unbändigen Spaß an der Sache und war dementsprechend mit voller Leidenschaft dabei. Also habe ich rund um die Uhr gearbeitet. Teilweise saß ich nachts um zwei noch alleine in fremden Bädern und setzte Fliesen – und das als Jugendlicher.
Das ging Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr so. Irgendwann ließ meine Leidenschaft nach, denn ich war völlig überarbeitet. Ich war ständig im Stress und permanent übermüdet. Natürlich verdiente ich dabei gutes Geld. Während meiner Lehrzeit bekam ich das Dreifache des Lohnes meiner Freunde. Unmittelbar danach verdiente ich bereits 3.000 DM. Ich hatte eine teure Uhr, die beste Kleidung und schon mit 18 Jahren einen schicken neuen VW Karmann-Ghia. Im Prinzip konnte ich mir all meine materiellen Wünsche erfüllen. Ich hatte alles, was man sich für Geld kaufen konnte. Dennoch, eines hatte ich nicht: Ich hatte keine Freizeit. Meine Freunde gingen nach dem Job mit den Mädels zum Strand oder feierten am Abend ausgelassene Partys. „Wo ist Wolfgang?“, wunderten sie sich hin und wieder. Doch ich war stets am Fliesenlegen. Der Spaßfaktor in meinem Leben war gleich null. Während andere das Leben genossen, war ich am Arbeiten. Auch für meinen Sport hatte ich keine Zeit mehr. Das Tauchen blieb völlig auf der Strecke und entwickelte sich schließlich zu einem zusätzlichen Stressfaktor.
Vor meinem geistigen Auge sah ich Vater und meine Onkel höhnisch auf mich herabschauen. Ich war 18 und befand mich zu meinem Entsetzen innerhalb nur weniger Jahre in einem Leben, das ich vor gar nicht so langer Zeit noch verächtlich belächelt hatte. Einem Leben, in dem niemals zu landen ich mir geschworen hatte: dem Leben in der Runde. Und jetzt war ich genau dort: Arbeiten, auf der Couch liegen, essen, schlafen. Was war aus meinen Plänen geworden, ein aktives Leben voller Abenteuer zu führen? Wo waren meine Träume geblieben? Noch hatte ich nicht allzu viel Lebenserfahrung sammeln können, aber instinktiv begriff ich: „Wolfgang, du musst rasch etwas ändern, um nicht frühzeitig vor die Hunde zu gehen.“ Die Frage war nur: Wie sollte ich das tun?
MIT KIND UND KEGEL
Die Existenz als Fliesenleger war hart. Umso ausgiebiger nutzte ich die kurze Zeit am Samstagabend, um wenigstens einmal in der Woche mit meinen Freunden so richtig abzufeiern. Frisch geschniegelt und top gestylt traf man sich damals im Parkhotel, einem riesigen Tanzschuppen mitten in Heiligenhafen. Der Club war das Partyzentrum der damaligen Jugend. Von überall kamen die Tanzwütigen herbeigeströmt: Von Fehmarn, Oldenburg, Hamburg, ja selbst aus dem fernen Berlin reisten scharenweise junge Leute an, um einen ausgelassen Abend zu erleben. Anfangs als Geheimtipp gehandelt, hatte es sich schnell herumgesprochen, dass man hier die besten Partys mit den hübschesten Mädels der gesamten Region feiern konnte. Auch viele Soldaten der Umgebung verschlug es dorthin – und ausgerechnet die waren für uns Jungs eine äußerst harte Konkurrenz beim Werben um die anwesenden Schönheiten.
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