Exkurs 1: Mensch-Natur-Verhältnisse im Anthropozän radikal anders
Was bedeutet es für unsere Vorstellung von „Natur“, wenn wir akzeptieren, dass wir Menschen die dominierende Größe auf dem Planeten geworden sind (vgl. Egner 2017a)? Damit ist gleichzeitig gesagt, dass wir auf alle natürlichen biochemischen und geophysikalischen Prozesse einwirken (vgl. Zalasiewicz et al. 2017), und dies in einem solchen Ausmaß, dass wir damit sogar unsere Lebensgrundlagen gefährden. Was ist dann noch „Natur“? Es scheint, als würden sich mit dem Anthropozän unsere Vorstellungen von „Natur“ zwangsläufig auflösen. Wenn die „Natur“ verschwindet, hat dies gleichzeitig Auswirkungen auf unser Menschenbild, also unsere Vorstellungen davon, wer wir als Menschen sind und was uns zentral ausmacht. Seit Jahrtausenden haben wir uns als etwas definiert, das der Natur gegenübersteht. Die Natur war gleichsam unser Gegenstück, das wir brauchten, um zu bestimmen, wer wir sind. Dabei galt vor allem unser Bewusstsein als das zentrale Element, das uns über die Natur erhebt und das uns zu etwas deutlich anderem werden lässt, als es die Natur selbst ist. Gleichzeitig ist der Zusammenhang von Mensch und Natur in den Wissenschaften seit Jahrtausenden eine ungelöste Frage. Wenn also mit der Hypothese des Anthropozäns die Natur (oder besser: unsere Vorstellungen von ihr) verschwindet, dann verschwindet gleichzeitig auch unsere Vorstellung von uns selbst. Die Erschütterung dieser Vorstellungen ist einer der Gründe, warum die Hypothese des Anthropozäns unser Weltbild und unsere Vorstellungen von der Ordnung der Welt auf so fundamentale Weise herausfordert.
Eine Möglichkeit, sich der Frage danach zu nähern, was „Natur“ und „Mensch“ im Anthropozän bedeuten und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, kann die Suche nach einem neuen „Wir“ sein. Mir scheint es z.B. problematisch, von „dem Menschen“ zu sprechen, wie das ganz üblich ist, auch in Schulbüchern und im Unterricht. Hier ist üblicherweise die Rede von „dem Menschen“, der zu den Umweltveränderungen geführt hat, die wir mit dem Anthropozän diagnostizieren. Die Rede von „dem Menschen“ als Verursacher von etwas spricht auf eine so allgemeine und so distanzierte Weise über einen Sachverhalt, als könnten die Problemlagen, die durch „den Menschen“ verursacht werden, durch irgendjemand anderen gelöst werden. So ist es jedoch nicht. Weder ist die Problemlage durch irgendjemanden zu lösen, noch ist es irgendjemand anderes, der sie verursacht. Es sind „wir“, wir alle, alle Menschen – und zwar unabsichtlich. Ohne es zu wollen wurden wir zu einer geophysikalischen Größe, allein durch die gelebte Wirtschaftspraxis in neoliberaler Manier und dies von einer stetig steigenden Anzahl an Menschen.
Der Geologe Reinhold Leinfelder spricht in seinem Science-Blog „Der Anthropozäniker“ von der „Unswelt statt Umwelt“ (Leinfelder o. J.). Wen meint dieses Uns in der Welt im Anthropozän? Sind das auch unsere Mitlebewesen (die so genannten Ko-Spezies)? Also Steinböcke, Murmeltiere, Adler, Fische, Käfer, Stechmücken …? Wie ist es mit anderen Elementen unserer physischen Umwelt, jenseits der Tiere? 2017 wurde von drei Bundesverfassungsgerichten in unterschiedlichen Ländern unabhängig voneinander Flüssen erstmals gerichtlich der Status einer „juristischen Person“ zuerkannt ( Ganges und Yamuna in Indien, Whanganui in Neuseeland und Rio Atrato in Kolumbien; vgl. Strang 2020). Wie ist das zu verstehen? Welche Rechte und Pflichten können an eine juristische Person „Fluss“ herangetragen werden? Und ganz grundsätzlich: Wie kann ein Fluss eine „juristische Person“ werden, wenn wir gleichzeitig den uns ähnlichsten Tieren (Primaten) sowie jenen Wesen, die unser Leben erleichtern sollen und in die wir sehr viel Geld und Mühe investieren, damit sie das tun (Künstlichen Intelligenzen), den Personenstatus und damit Menschenrechte verweigern?
All dies sind offene Fragen, die jedoch – lässt man sie einmal spielerisch gedanklich zu – jegliches Lehren/Lernen verändern und das Bewusstsein für ein neues Verständnis mit Blick auf das Anthropozän öffnen.
2. Der Fall: Das Modell des Wasserkreislaufs
Das Modell des Wasserkreislaufs ist ein konkretes und überschaubares Beispiel, an dem sich zeigen lässt, dass alle unsere Erklärungen über die Welt nichts anderes als „sinnstiftende Erzählungen“ sind, entstanden in einem konkreten Kontext und versehen mit einer beschränkten Gültigkeit. Der Begriff der „Erzählung“ (oder mit dem Fachbegriff: „Narrativ“) erscheint mir zentral. Ich folge damit Yuval Noah Harari, der darauf hinweist, dass wir „Sapiens“ deshalb die Welt beherrschen, weil nur wir in der Lage sind, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen, an die wir dann mit ganzem Herzen glauben und unter Umständen sogar bereit sind, dafür in den Krieg zu ziehen. Gleichzeitig zeigt die gesamte Geschichte: „Früher oder später löst sich dieses Sinngeflecht, das wir erfunden haben, auf und wenn wir zurückblicken, fällt es uns schwer zu begreifen, wie irgendjemand es jemals ernst nehmen konnte“ (Harari 2017, S. 207). Wie ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, gilt dies auch für wissenschaftliche Erzählungen. Behalten wir also im Blick: Auch unser aktuelles, als sicher angenommenes Wissen, das wir in der Schule und den Universitäten weiterreichen und weiterentwickeln, besteht aus nichts anderem als Erzählungen, deren Sinngeflechte sich früher oder später auflösen werden.
In wissenschaftlichen Erzählungen bilden Theorien und Modelle die Struktur und das Gerüst, an dem entlang erzählt wird. Vor der näheren Betrachtung der Erzählungen über Wasser und das Modell des globalen Kreislaufs erscheint mir ein kurzer Blick auf diese Grundstruktur hilfreich, auch um damit die Unterscheidung zwischen Theorie und Welt in Erinnerung zu rufen.
2.1 Grundlegendes zur Struktur von „Erzählungen“: Theorien und Modelle
Die Begriffe „Theorie“ und „Modell“ werden oftmals synonym verwendet. Sie meinen jedoch Unterschiedliches und verweisen auf verschiedene Aspekte unseres Denkens in einer Erklärung. Theorien lassen sich in einem ganz basalen Sinn als „Annahmen über kausale Zusammenhänge“ (Egner 2010, S. 9) verstehen. Diese einfache Definition gilt für wissenschaftliche Theorien wie auch für jegliche Annahmen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die wir im Alltag vornehmen. Zwar haben Theorien das Potenzial, auf empirische Phänomene angewendet zu werden, diese Anwendung findet jedoch oft mit Hilfe von Modellen statt (vgl. Bailer-Jones 2004, S. 140). Ein Modell ist eine für bestimmte Zwecke vereinfachende Darstellung mit drei zentralen Merkmalen (vgl. Stachowiak 1973, S. 23 f.):
1. Abbildung. Ein Modell ist ein Abbild von etwas, eine Repräsentation natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können.
2. Verkürzung. Ein Modell erfasst nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, die relevant erscheinen (relevant für diejenigen, die das Modell erzeugen oder für diejenigen, die es nutzen sollen).
3. Pragmatismus (Orientierung am Nützlichen). Ein Modell ist einem Original nicht von sich aus zugeordnet. Die Zuordnung wird vielmehr durch die Fragen: „Für wen? Warum? Wozu?“ bestimmt.
Ein Modell ist somit bereits interpretiert (da im Zusammenhang mit einer bestimmten Theorie entwickelt) und zweckgerichtet. Weder Modelle noch Theorien sind ein Abbild der Realität, sondern eine sinnstiftende Erzählung über Aspekte der Wirklichkeit. Gleichwohl sind wir gerade bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen leicht versucht, Theorien für die Realität zu nehmen, insbesondere wenn sich viele Belege für die Theorie finden lassen. So ist beispielsweise für einige in der Biologie die Evolution „keine Theorie“, sondern „Naturgeschichte“ und „Gegebenheit wie Erdgeschichte und Geschichte des Kosmos“ (Reichholf 2009, S. 165) und damit – in der Auseinandersetzung mit dem Kreationismus beispielsweise – nicht verhandelbar. In einer unmittelbaren Antwort auf diese Sichtweise hat der Architekturwissenschaftler Wolfgang Sonne zu Recht auf den „Unterschied zwischen Theorie und Objekt“ hingewiesen, und darauf, dass „die Wissenschaft den Streit [mit dem Kreationismus] argumentativ nur gewinnen kann, gerade indem sie darauf insistiert, dass Darwin eine Theorie entwickelt hat“ (Sonne 2009, S. 272).
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