Der junge Mensch war in der Tür stehen geblieben, mit niedergeschlagenen Augen und ängstlich an dem Beinkleide herumfingernden Händen.
Der Chef, der sich Mühe zu geben schien, seinem unsympathischen Gesicht einen freundlichen Anstrich zu geben, musste ihn erst näher zu sich heranrufen.
Da kam er denn bis an die Rückseite des Schreibtisches, aber, — sei es nun, dass ihm der Agent so grosse Furcht einflösste, oder lag diese Scheu vielleicht in seinem ganzen Wesen — jedenfalls brachte er es nicht fertig, Herrn Kretschmar frei ins Auge zu blicken.
Dem Agenten war das freilich gar nicht unangenehm, weil er selbst jedesmal, wenn ihm irgendwer fest und scharf ins Gesicht sah, das seine senken musste.
„Sie suchen also eine Stellung, Herr ... wie war doch Ihr Name?“
„Philipp Märker ...“
„Wo waren Sie denn früher?“
Der kleine Mensch überreichte dem Agenten einen stark gefüllten Briefumschlag.
„Hier, bitte, das sind meine Zeugnisse!“
Der Agent las dieselben aufmerksam durch, dann gab er sie zurück.
„Das letzte reicht bis Ende August,“ sagte der Agent, den jungen Mann dabei fest ansehend. „Wo sind Sie denn seitdem gewesen?“
Der junge Mann wurde bei dieser Frage auffallend rot und trat ein paar Schritte von dem Schreibtisch des Agenten zurück.
Theophil Kretschmar bemerkte sofort, dass da etwas nicht in Ordnung sei, und er war nicht der Mann, sich da, wo es sich um die Ausspürung eines Geheimnisses handelte, von dem man nie wusste, wie man es mal benutzen konnte, so leicht abweisen zu lassen.
„Sagen Sie es nur ruhig,“ lächelte er, „zu mir können Sie unbedingtes Vertrauen haben ... Ich weiss recht gut, dass im Leben nicht alles so glatt abgeht, und wenn Ihnen da wirklich etwas passiert ist, worüber ein anderer vielleicht nicht so leicht hinwegsehen würde, bei mir findet auch der irrende und strauchelnde Mitmensch noch volles Verständnis.“
Aber der Kleine hatte sich inzwischen gefasst. Und mit dem eigensinnigen Ausdruck des Verstockten erwiderte er:
„Aber nein, mein Herr, mir ist nichts, gar nichts ist mir passiert ...“
„Wirklich nicht?“ fragte der Agent, und sah sein Gegenüber durchbohrend an.
„Nein, nein!“ beteuerte der junge Mann, „wenn Sie das von mir glauben, dann ist es ja besser, ich gehe gleich wieder.“
Dabei retirierte er auch schon nach der Tür zu, augenscheinlich von dem Wunsche beseelt, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
Aber der Agent liess ihn nicht fort.
„Nun, nun,“ meinte er, „wenn ich mich geirrt haben sollte, dann entschuldigen Sie nur, bitte ... das braucht Sie doch nicht abzuhalten, bei mir in Stellung zu treten.“
Aber der Kleine wollte jetzt nicht mehr.
„Ich möchte doch lieber ... ich möchte doch lieber darauf verzichten, mein Herr ...“
„Sooo ...?“
Der Agent heftete seine unbarmherzigen Blicke auf das kränkliche Gesicht des jungen Mannes, der sich auf seinem Platze wand und drehte, ohne jedoch die Energie aufzubringen, das Zimmer zu verlassen.
„So,“ sagte der Agent, „so, nun das scheint mir allerdings merkwürdig! ... Ich bitte Sie, Vertrauen zu mir zu haben, und gerade das bestimmt Sie, auf die Stellung in meinem Hause zu verzichten ... hm ... das ist doch recht merkwürdig ... wirklich sehr eigentümlich ...“
Der Kleine hatte abermals einen roten Kopf bekommen, jetzt sagte er:
„Aber nein, durchaus nicht! Ich würde sogar die Stellung sehr gern annehmen ...“
Er suchte offenbar nach einer Entschuldigung, weswegen er es nun nicht tun könne, aber sein mattes Gehirn gab diesem Augenblicksbegehren nicht nach, und gegen seine feste Absicht, hier auf keinen Fall länger zu bleiben, nahm er auf die sehr bestimmte Bitte des Agenten hin einen Stuhl und setzte sich Herrn Kretschmar gegenüber.
Der sah ihn an mit jenem Hohnlächeln, das ihm schon so viele Menschen zu Feinden gemacht hatte, und schwieg eine ganze Weile.
„Sie wollen also bei mir arbeiten?“ sagte er dann und weidete sich an der Unfähigkeit des Kleinen, ihm zu widerstreben.
„Die Bureaustunden sind von acht bis acht Uhr mit einer Stunde Mittagzeit ... na, und sollte mal etwas länger gearbeitet werden, so muss man das eben mit in den Kauf nehmen, das wissen Sie ja ... Ich gehe auch nicht mit der Uhr in der Hand nach Hause. Sonntags wird nur in ganz dringenden Fällen gearbeitet. Und von den Feiertagen haben Sie jedenfalls immer einen Tag frei. Das Gehalt beträgt vierzig Mark.“
Der junge Mensch schien von diesen Eröffnungen ganz zu Boden geschmettert, aber es musste in seiner Seele etwas geben, was ihn, ohne das jener andere noch wusste, was es eigentlich war, doch schon in ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem Agenten gebracht hatte.
„Mit den Bedingungen sind Sie doch einverstanden?“ fragte Herr Theophil Kretschmar, dessen Grinsen in diesem Augenblick wirklich etwas Teuflisches hatte.
Der Kleine nickte. Ihm war zumute wie einem Vogel, den man in der Schlinge gefangen hat und der froh ist, wenn man ihm nicht sofort den Kopf abreisst.
Indessen wurde es ihm ganz augenscheinlich schwer, das zu sagen, was ihn bedrückte.
„Aber, Herr Kretschmar, ich muss ...“
„Na, was müssen Sie?“
„Ich muss ... ich brauche etwas Geld im voraus, Herr Kretschmar.“
„Im voraus? ... Nee, hören Sie mal, mein Lieber, so was, das gibt’s bei mir nicht ... Regelmässig am letzten des Monats wird Ihr Gehalt ausbezahlt, aber voraus zahlen, das wollen wir nicht einführen!“
Der Kleine schluckte ein paarmal heftig, dann sagte er:
„Ja, dann bedauere ich wirklich ... ich muss doch leben ... und ich besitze nichts, und Kredit geben tut mir auch keiner.“
„So, hm ...“
Der Agent dachte nach.
„Na,“ sagte er dann, „wenn die Sache so liegt, dann müssen wir eben mal eine Ausnahme machen ... dann werde ich Ihnen eben jeden Abend Ihre Mark ausbezahlen.“
„Ja, und ...“ Der Kleine fand wieder das Wort nicht.
„Na, was denn und?“ fragte der Agent, ihn so aufmerksam betrachtend, als hätte er ihn noch nie gesehen.
Der junge Mensch gab sich einen Ruck und meinte:
„Und die übrigen zehn Mark, nicht wahr, die bekomme ich dann am Ende des Monats?“
Der Agent lachte laut auf.
„Zehn Mark, ja, aber hören Sie mal, lieber Freund, ich kann mich doch nicht ohne weiteres in Unkosten stürzen Ihretwegen! Wenn Sie per Ende des Monats Ihr Geld nehmen wollen, dann zahle ich Ihnen vierzig Mark, sonst bekommen Sie eben pro Tag eine Mark ... Sie können mir ja jeden Tag wegbleiben, und dann habe ich die grösste Mühe gehabt, Sie anzulernen, und bin schliesslich selber der Dumme ... Nee, nee, lieber Freund, das wollen wir nicht machen!“
Der Kleine wurde wieder rot vor innerer Erregung, aber er brachte es offensichtlich nicht fertig, noch weiter gegen den Herrn Chef anzukämpfen.
Der Agent nickte lächelnd.
„Übrigens können Sie gleich hierbleiben, das Fräulein draussen wird Ihnen zeigen, was zu tun ist ... und vor allen Dingen hängen Sie einen Zettel an die Tür, dass Sie so glücklich gewesen sind, die Stelle zu erlangen, damit mir Ihre Kollegen nicht noch weiter das Haus einrennen.“
Und Philipp Märker hörte voll heimlicher Wut das laute Gelächter, mit dem ihn sein Chef verabschiedete.
Draussen gab ihm das blasse Mädchen einen Stoss Akten, die er auf der Schreibmaschine kopieren sollte, und bald eilten seine mageren Finger in ruheloser Hast über die Tastatur, und ob es gleich nicht viel mehr als nichts war, was er hier erwarb, so befriedigte es ihn für einen Augenblick doch, dass er einen Platz gefunden hatte, auf dem er sitzen durfte, und eine Arbeit, die ihn vielleicht das vergessen lassen würde, was ihn so unablässig quälte.
Bald darauf begannen die Sprechstunden des Agenten.
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