»O. k.! Du möchtest wissen, was in Altötting ist?« Novelle saß auf der Decke, und als Rofu auffuhr, guckte sie ihm direkt ins Gesicht und fixierte ihn. Dann schob sie die Ärmel ihres Shirts nach oben und streckte ihm ihre vernarbten Unterarme entgegen.
»Fuck! What?« Entsetzt und mit verzerrtem Gesicht nahm Rofu ihre beiden kleinen, bleichen Handgelenke und umfasste sie mit seinen Pranken. Entgeistert und erschrocken betrachtete er die ins Fleisch geschnittenen Höllen einer jungen Frau. Dabei strich er vorsichtig mit den Fingern über ihre Narben – so als ob er versuchte, die verwachsenen Furchen auf ihrer Haut wieder glatt zu streicheln oder zu heilen und vielleicht die Angst und ihren nie verklingenden Hall zu lindern. Er ließ ihre Arme gar nicht mehr los. Tränen rollten über sein Gesicht. Novelle saß still vor ihm. Auch ihre Augen wurden feucht. Ich glaube, sie zitterte. Es lag so viel Zerbrechlichkeit und Fürsorge in Rofus Geste. Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, hielten sich in einem zeitlosen Moment an den Händen. Es war tief berührend, mit anzusehen, wie er ihr dabei half zu weinen. Wie die Schmerzensmutter einer Pieta.
Nach einer Weile durchbrach Mimi die Stille. Wortlos kramte sie vier Zigaretten hervor, zündete nacheinander zwei an und reichte jedem eine. Mimi hatte ein Gespür für den richtigen Moment.
Rofu ließ Novelles Arme los. Er nahm einen tiefen Zug. Sofort fing er an, zu husten, und ließ sich nach hinten in den Sand fallen.
»Allah! Fuck, das machst du zwanzig Mal am Tag?« Fragend schaute er mich an und hielt die Zigarette wie einen gefährlichen Feuerwerkskörper vor sich.
Wir fingen alle an zu lachen, und auch Novelle schmunzelte verlegen. Ich beobachtete sie. Ich konnte gar nicht anders. Seit ich sie das erste Mal sah, als ich die Heizung strich, schaute ich nach ihr und wartete, was als Nächstes geschehen würde. Entweder erdrückte sie einen mit ihrer raumgreifenden Präsenz oder sie floh wie ein Tier ins Unterholz. Heute glaube ich, dass ihr Murmeln in ihrer unverständlichen Sprache verbotene Tränen waren, die sich ihren Weg in Worten suchten. Und dann war da noch die unwiderstehlich wirkende Zuckerwatte-Novelle. Man wusste nie, was passieren würde. Schließlich holte sie tief Luft und stimmte lauthals in unser Gelächter über Rofus Raucherversuche ein. Dabei boxte sie sogar Mimi auf den Arm.
Dann wurde Novelle wieder anders, deckte ihre kurze Enthemmung wieder zu. Sie ließ sich auch auf den Rücken fallen und schaute in den Himmel und faselte ganz kurz wieder etwas von ihrem unverständlichen Zeug. Nach einigen tiefen Zügen von Mimis Zigarette sagte sie lakonisch:
»Ich wurde einfach an einem Abend geholt … und dann, dann zog man mir zusammen mit meinen Kleidern meine Kindheit aus.«
Stille. Ein Satz wie ein Schuss aus einer Hecke. Novelle griff mit einer Hand in den Sand und hob ihn auf. Ihre Nasenflügel flatterten und sie betrachtete ihre Faust, während der Inhalt zwischen ihren Fingern herausrieselte. Mir war, als umklammerte etwas mein Herz, das mich nicht mehr atmen lassen wollte, und ich bekam Angst, dass es, gefangen in seiner kalten Zwinge, beim nächsten Schlag zerbersten würde. Einerseits war Novelle die fragwürdigste Person, die mir je begegnet war. Anderseits wollte ich nichts von ihrer Geschichte wissen. Nicht wie Kindern Gewalt angetan wird. Meine Welt hatte zwar Tiefen, und auch ich musste an Abgründen balancieren. Aber das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich kannte keine wirklichen Opfer, die wehrlos eine Willkür erfahren mussten, und ich wusste nichts davon und wollte auch nichts darüber erfahren, weil ich die Verantwortung, die nun damit drohte, auf meinen Schultern Platz zu nehmen, nicht tragen wollte.
Ich sah zu Mimi, die ihre Hände vor ihren Mund presste, als ob sie so Novelles Lippen versperren könnte, damit sie das, was jetzt kommen würde, nicht hören müsste. Rofu saß starr und bewegungslos im Schneidersitz und stützte sein Gesicht auf seinen Händen.
Novelle stockte. Sie fasste sich jetzt an ihren Hals, massierte ihn und machte kleine Fäuste mit weißen Fingerknöcheln, die aus ihrer dünnen Haut herausplatzen wollten. Dann berichtete sie von dem Attentat auf ihre Identität.
Sie sprach leise und ihre Stimme fauchte wie ein röchelnder, leerer Wasserkocher:
»Das Schönste mit meiner Mama war, wenn wir das Bettzeug gefaltet haben. Ich stand an der einen Seite und sie hat von der anderen zu mir rübergelacht. Ich konnte es kaum erwarten, mit meinem Ende in den Händen auf sie zuzulaufen, um die Tücher weiter zusammenzulegen. Dabei hat sie dann oft, wenn ich dicht bei ihr stand, das Laken um mich gedreht, bis nur noch mein Kopf herausgeragt ist, und dann hat sie mich, so umhüllt und eingepackt, ganz fest gedrückt. Wenn du Kind bist, lebst du mit der tiefen Überzeugung, das nichts passieren kann. Dass alles seinen Platz hat und dass alles, was du kennst, klar und für immer ist. Dann passiert doch etwas und deine Welt bricht zusammen, du fällst aus ihr hinaus in eine andere. Du zerspringst zusammen mit allem um dich herum, so wie ein Glas, das auf den Boden gefallen ist, und liegst da in tausend Scherben. Ich war elf, als ich eines Tages nach Hause gekommen bin und meine Mama tot war. So hat das angefangen. Nur noch mein Vater und ich waren da. Zuerst haben wir uns gegenseitig getröstet. Er hat tagsüber geweint und ich am Abend. In der Nacht haben wir zusammen geweint. Wenn ich ihn fragte, warum, hat er nur noch mehr geweint. Ich wusste es damals nicht. Sie hatte sich vergiftet. Dieses Schwein!«
Novelle war im Begriff, ihre Geschichte abzubrechen. Sie stockte und schluckte, als würde sie Steine nach oben würgen, an denen sie zu ersticken drohte. Wir alle wussten, was jetzt kommen würde. Keiner wollte hören, wie sie ihre eigene Mutter ersetzen musste. Mimi legte ihre Hand auf Novelles Schulter und flüsterte: »Ist gut, Kleines. Ist gut.« Doch Novelle schluckte mit einem zur Fratze verzerrtem Gesicht hinunter und machte weiter.
»Es sind diese Augen. Scheiße. Wisst ihr? Irgendwann merkst du, ganz zufällig, dass der Blick etwas anderes, etwas Neues, Zusätzliches hat. Dass es nicht die Traurigkeit ist. Es ist etwas, was du noch nicht kennst, nicht einordnen kannst. Ein Unbehagen vor dem Unbekannten sticht dich kurz, und dann hast du das auch schon wieder vergessen. Dann kommt der Tag, wenn aus diesem sonderbaren Blick, für den du noch keine Antwort hast, die Raserei ausbricht. Und schon wieder ist alles anders. Alles! Alles! Alles ist dann anders! Das, was du gerade erst, nachdem das für dich Wichtigste auf der Welt nicht mehr da ist, mühsam, allein und ohne Hilfe sortiert hast, zerbricht zum zweiten Mal. Deine aufgekratzten Scherben, die du, so gut es eben geht, mit vielen Tränen zusammengeklebt hast, das, was du geglaubt und aufgebaut hast, das, was beinahe wieder sicher war, ist jetzt für immer und in noch kleinere Teile zerschlagen. Dann liegst du da und findest keine Geborgenheit. Wisst ihr, ohne das Gefühl der Geborgenheit versinkst du eines Tages. Oder du erfrierst, wahnsinnig geworden im Eismeer. Und deshalb lässt du’s geschehen.«
Sie schaute uns hilflos und zugleich fragend an. Dann fuhr sie fort. Ich hatte sie noch nie so viel reden gehört.
»Alle haben den. Diesen Blick, der wie bei tollwütigen Tieren jederzeit in Tobsucht ausbrechen kann. Schau den Männern in die Augen! Sie sehen dich an. Ihre Augen heizen sich auf. Dann fixieren sie dich auf eine Weise, die dich oder etwas in dir wirklich bewegungslos werden lässt. Und kurz nach einem luftleeren Moment, und bevor dann alles umschlägt, hat ihr Blick für diesen einen Wimpernschlag etwas Herausforderndes. Nur ganz kurz. Mit der Zeit lernst du, in dieser halben Sekunde das Ausmaß der Raserei zu lesen. Wie sich der Griff um deinen Hals legt. Scheiße! Alle haben diesen Blick. Die Hotelgäste, die Kellner, der Taxifahrer. Gierig.«
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